Nationalsozialismus in Mosbach - Baden
: Rechtsextremismus und Neofaschismus : Anti-Semitismus : Anti-Ziganismus : Homophobie : Rassismus : Diskriminierung 

HISTORISCHES & AKTUELLES: 
Schlussstrichdebatte
in der NS-Vergangenheitsbewältigung

Schuld oder Verantwortung
Schuld oder Sühne

 Zuletzt AKTUALISIERT am 02.04.2025 ! 

Verschweigen, Verleugnen, Verharmlosen von Nazi-Justiz-Verbrechen sowie des historischen Versagens der deutschen Nachkriegsjustiz bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Mosbach-Baden:
Festhalten an NS-Unrechtsurteilen vor 1945 beim Amtsgericht Mosbach seit 2022 in der Verschränkung von Nazi-Medizinverbrechen mit Nazi-Justizverbrechen bei der Nazi-(Kinder)-Euthanasie und bei den Nazi-Zwangssterilisierungen

>>> PROTEST GEGEN RECHTSEXTREMISMUS >>>
Aufforderungen und Anweisungen der seit Jahren beim Amtsgericht Mosbach tätigen KM-Rechtsanwältin aus Walldürn KONKRET an das Amtsgericht Mosbach vom 22.06.2022 unter 6F 202/21 und vom 12.11.2023 unter 6F 228/23, die Nazi-Jäger-Eingaben des KV amtsseitig EXPLIZIT NICHT zu benennen und amtsseitig EXPLIZIT NICHT zu bearbeiten und damit Nazi-Justiz-Verbrechen sowie das historische Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen, INSBESONDERE in der Region Mosbach-Baden, zu verschweigen, zu verleugnen und zu verharmlosen.
240130_202_21_PROTEST_gegen_RECHTS_NS_Justiz_BLIND.pdf (809.54KB)
>>> PROTEST GEGEN RECHTSEXTREMISMUS >>>
Aufforderungen und Anweisungen der seit Jahren beim Amtsgericht Mosbach tätigen KM-Rechtsanwältin aus Walldürn KONKRET an das Amtsgericht Mosbach vom 22.06.2022 unter 6F 202/21 und vom 12.11.2023 unter 6F 228/23, die Nazi-Jäger-Eingaben des KV amtsseitig EXPLIZIT NICHT zu benennen und amtsseitig EXPLIZIT NICHT zu bearbeiten und damit Nazi-Justiz-Verbrechen sowie das historische Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen, INSBESONDERE in der Region Mosbach-Baden, zu verschweigen, zu verleugnen und zu verharmlosen.
240130_202_21_PROTEST_gegen_RECHTS_NS_Justiz_BLIND.pdf (809.54KB)


BUNDESPRÄSIDENT STEINMEIER bekennt sich am 19.04.2023 zur deutschen Verantwortung für die NS–Verbrechen zum 80. Jahrestag des Gedenkens an den Warschauer Aufstand: „Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass viel zu wenige andere Täter sich verantworten mussten nach dem Krieg.


2. Online-Artikel zur Schlussstrichdebatte und Schlussstrichmentalität

55 Prozent der Deutschen: Mehrheit will bei Umfrage Schlussstrich unter NS-Vergangenheit ziehen

Der Anteil der Befragten, die einen Schlussstrich befürworten ist laut einer repräsentativen Studie der „Zeit“ in den vergangenen fünf Jahren um mehrere Prozentpunkte angestiegen.
26.03.2025, 17:37 Uhr
Eine Mehrheit der Deutschen will einer Umfrage zufolge einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen. Dieser Aussage stimmten 55 Prozent der Befragten „voll und ganz“ (26 Prozent) oder „eher“ zu (29 Prozent), heißt es in einer repräsentativen Studie im Auftrag der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ (Donnerstag). Das Institut Policy Matters befragte den Angaben zufolge im Januar dieses Jahres insgesamt 1.049 Deutsche ab 14 Jahren.
Der Anteil derer, die einen Schlussstrich befürworten, sei damit seit 2020, als die „Zeit“ eine vergleichbare Befragung veröffentlichte, um zwei Prozentpunkte gestiegen, hieß es weiter.
Auch bei anderen Aussagen habe sich das Stimmungsbild in den vergangenen fünf Jahren leicht verschoben: „Die Zeit des Nationalsozialismus wird viel zu einseitig und negativ dargestellt – sie hatte auch ihre guten Seiten“ – dieser Aussage schließen sich den Angaben zufolge insgesamt 28 Prozent der Befragten „voll und ganz“ oder „eher“ an, 2020 waren es 22 Prozent.
Die Résistance im Berlin der Nazis Wie ein französischer Physiker in der Hauptstadt sabotieren konnte
Laut Umfrage ist das Interesse der Deutschen an der NS-Zeit jedoch unverändert hoch. 66 Prozent der Befragten wollten mehr über die Geschichte des Nationalsozialismus wissen, hieß es. Unter den 14- bis 19-Jährigen seien es 84 Prozent, unter den Befragten mit Migrationshintergrund 74 Prozent.
Die Haltung der Deutschen zur NS-Vergangenheit ist in den politischen Lagern sehr unterschiedlich ausgeprägt: 90 Prozent der AfD-Anhänger fordern nach „Zeit“-Angaben einen Schlussstrich. Bei den Wählern der Union seien es 58 Prozent, bei denen der Grünen 20, bei denen der Linken 28. Die Anhänger des Bündnisses Sahra Wagenknecht stünden in vielen Punkten zwischen denen der Union und der AfD. Einen Schlussstrich begrüßten hier 63 Prozent „voll und ganz“ oder „eher“.
Auch Israel und Ukraine-Krieg Thema der Befragung
Die Wähler der Grünen und der Linken sehen die Bundesrepublik auch mit Blick auf Israel am stärksten in der historischen Verantwortung. „Aufgrund der Verfolgung der Juden in der NS-Zeit hat Deutschland die Verpflichtung, für das Existenzrecht Israels einzutreten“: Diesem Satz stimmten weniger als die Hälfte aller Befragten „voll und ganz“ oder „eher“ zu (45 Prozent).
Zu jeweils 51 Prozent schließen sich Befragte mit CDU/CSU- und SPD-Präferenz an. Im Grünen- und im Linken-Milieu liegt die Zustimmung mit 57 und 66 Prozent am höchsten.
Mehr zum Thema:
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Ein ähnliches Bild ergibt die Befragung zum russischen Krieg in der Ukraine. „Wir Deutschen haben eine besondere Verantwortung für die Verteidigung der Ukraine, nicht zuletzt aufgrund der dort verübten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg“: Hier liegt der Zuspruch im Schnitt bei 39 Prozent, bei den Grünen- und den Linken-Wählern ist er mit jeweils 57 Prozent („voll und ganz“ oder „eher“) am deutlichsten. (epd, KNA)
https://www.tagesspiegel.de/


Kriegsopferrenten:
Deutschland zahlt laut Bericht immer noch Opferrenten an Nazi-Täter

1998 hatte der Bundestag beschlossen, Opferrentenempfänger zu überprüfen. Noch heute bekommen laut einem Bericht selbst Ex-Waffen-SS-Leute im Ausland Kriegsopferrente.
23.01 2025, 4:06 Uhr
Quelle: ZEIT ONLINE, AFP, rl
Kriegsopferrenten: Der Bundestag hatte 1998 beschlossen, dass alle Rentenempfänger überprüft werden sollten.
Der Bundestag hatte 1998 beschlossen, dass alle Rentenempfänger überprüft werden sollten. © Alicia Windzio/​dpa
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zahlt die Bundesrepublik Deutschland einem Medienbericht zufolge Kriegsopferrenten und andere Altersbezüge an frühere Nazi-Täter. Nach Einschätzung von Experten handelt es sich bei rund fünf Prozent der mehr als 8.000 Empfänger von Kriegsopferrenten um Kriegsverbrecher, berichteten das Nachrichtenmagazin Stern und die Internetplattform Frag den Staat in einer Vorabmeldung. Sie berufen sich auf Zahlen, die aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken hervorgehen.
Dem Bericht zufolge erhielten mit Stand Dezember 2023 7.648 Beschädigte im Inland und 657 Beschädigte im Ausland eine Kriegsopferrente nach dem Bundesversorgungsgesetz. Sie koste den deutschen Staat rund fünf Millionen Euro jährlich, berichten die Medien weiter auf Basis der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linken.
"Spitze des Eisbergs"
Dem Bericht zufolge bekommen selbst ehemalige Soldaten der Waffen-SS im Ausland eine Kriegsopferrente. Der Stern berief sich auf seine Recherchen von mindestens vier eindeutig nachweisbaren Fällen. Die für die Kriegsopferrenten zuständigen Versorgungsämter bestätigen die Zahlungen.
Nach Einschätzung von Experten wie dem Historiker und NS-Experten Stefan Klemp ist dies in Wahrheit nur die Spitze des Eisbergs: Es handele sich bei rund fünf Prozent aller Empfänger von Opferrenten um Kriegsverbrecher, sagte Klemp.
Der Bundestag hatte 1998 beschlossen, dass alle Rentenempfänger überprüft werden sollten. Wer Verbrechen gegen die "Grundsätze der Menschlichkeit" begangen habe, dem sollte die Rente verwehrt werden. Klemp kritisierte das Gesetz als "Feigenblatt", da es in der Praxis praktisch nicht angewandt werde. Auch der frühere Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, sieht in den Renten an Nazi-Täter ein Versagen Deutschlands. "Niemand hat sich ernsthaft dafür interessiert, das zu beenden", kritisierte er.
Ihre Stimmen zum Ampel-Aus
Wie steht es um Ihre Rente?
Reicht Ihre Rente heute aus? Und welche Reformen sind notwendig für die Renten von morgen? Im Podcast Anruf an alle veröffentlichen wir Ihre Sprachnachrichten zur Lage im Land.
Kosten nennt die Bundesregierung nicht
Die Bundesregierung wollte die Ausgaben für diese Renten nicht beziffern. Ihr lägen keine Informationen hinsichtlich der Empfängerinnen und Empfänger von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor, antwortete sie auf die Kleine Anfrage der Linken.
Kriegsopferrenten: Deutschland zahlt laut Bericht immer noch Opferrenten an Nazi-Täter
Der Linke-Bundestagsabgeordnete Jan Korte sprach von einer "faulen Ausrede". "Trotz Sonntagsreden und der ständigen Wiederholung der Lüge von der ach so großartigen Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus" fehle allen Bundesregierungen seit Jahrzehnten der politische Wille, dagegen vorzugehen.
Auschwitz-Gedenken am Montag
Am kommenden Montag wird anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung des Nazi-Vernichtungslagers Auschwitz der Opfer gedacht. Dazu reist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Polen. Auch in Deutschland finden zahlreiche Veranstaltungen statt.
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https://www.zeit.de/


Schlussstrichdebatte

Graphischer Großbetrieb Georg Stritt & Co - Haus der Geschichte, Bonn; http://www.hdg.de/lemo/objekte/pict/Nachkriegsjahre_plakatFDPSchlussMitEntnazifizierung/index.html Wahlplakat der FDP zur Bundestagswahl 1949 mit der Forderung nach Beendigung der Entnazifizierung

Schlussstrichdebatte (vgl. die Redewendungeinen Schlussstrich ziehen“) bezeichnet die Diskussion um die Beendigung einer in der Regel sehr kontroversen Auseinandersetzung über ein dauerhaftes Streitthema. Der Begriff wird auch als politisches Schlagwort verwendet.
Beispiele
Einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in der deutschen Bevölkerung die Entnazifizierung als ungerecht empfunden. Es kam in weiten Kreisen der Wunsch auf, anstelle einer weitergehenden Vergangenheitsbewältigung einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit zu ziehen. Seither wurde die Debatte mit alternativen Formulierungen immer weiter geführt: So äußerte sich beispielsweise der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß 1986, es sei „höchste Zeit, dass wir aus dem Schatten des 3. Reiches und aus dem Dunstkreis Adolf Hitlers heraustreten und wieder eine normale Nation werden.“[1]
Martin Walser sprach 1998 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von der „Routine der Beschuldigung“, „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“" und formulierte: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“.[2] Das Wort „Schlussstrich“ verwendete Walser nicht, es wurde jedoch in der anschließenden Debatte häufig mit seiner Rede in Verbindung gebracht.[3]
https://de.wikipedia.org/wiki/Schlussstrichdebatte


Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen

Zwischen 1942 und 1945 existierten in den heutigen Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz etwa 40 KZ-Außenlager des Konzentrationslager Natzweiler (Elsass). Nach Kriegsende geriet die Geschichte dieser Lager oftmals für Jahrzehnte in „Vergessenheit“, ehe sich in den 1980er Jahren lokale Gruppen und Initiativen für eine umfassende Aufarbeitung und dauerhafte Erinnerung an die Opfer einsetzten. Marco Brenneisen, Mitarbeiter am MARCHIVUM Mannheim, beleuchtet in seinem Beitrag die Phasen und Zäsuren des gesellschaftlichen, administrativen wie auch politischen Umgangs mit den KZ-Außenlagern und zeichnet die erinnerungskulturellen Entwicklungen in den südwestdeutschen Orten seit 1945 nach.
zum Podcast
https://www.gedenkstaetten-bw.de/


Bundesgerichtshof bestätigt
:Berufsverbot für AfD-Richter Maier

Jens Maier war AfD-Abgeordneter und wollte wieder als Richter arbeiten. Stattdessen wurde er in den Ruhestand versetzt. Der BGH sagt jetzt: zu Recht.
AfD-Politiker Jens Maier.
5. 10. 2023, 17:19 Uhr
Der Ex-AfD-Bundestagsabgeordnete und Richter Jens Maier im BundesgerichtshofFoto: Uli Deck/dpa
KARLSRUHE taz | Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Versetzung des AfD-Richters Jens Maier in den Ruhestand bestätigt. Wenn der Ex-AfD-Abgeordnete wieder als Richter arbeiten würde, wäre das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Justiz beeinträchtigt, entschied das Dienstgericht des Bundes beim BGH am Donnerstag. Der inzwischen 61-jährige Jurist Jens Maier arbeitete seit 1992 für die sächsische Justiz. 2017 wurde er für die AfD in den Bundestag gewählt. Bei der nächsten Wahl verpasste er knapp den Wiedereinzug und wollte wieder als Richter arbeiten.
Die sächsische Justizministerin Katja Meier (Grüne) versuchte das zu verhindern und beantragte eine Versetzung von Maier in den Ruhestand. Sie müsse eine „schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege“ abwehren. Er konnte Mitte März 2022 noch zehn Tage am Amtsgericht Dippoldiswalde arbeiten, dann untersagte ihm das Richterdienstgericht Leipzig die Dienstgeschäfte. Im Dezember 2022 versetzte das gleiche Gericht Maier – wie von der Ministerin beantragt – in den Ruhestand.
Das Dienstgericht des Bundes lehnte nun nicht nur die Revision ab. Es bestätigte auch ausdrücklich den von der sächsischen Justizministerin gewählten Weg einer präventiven Pensionierung. Die zugrundeliegende Norm – Paragraf 31 im Deutschen Richtergesetz – war bisher selten genutzt worden, etwa bei Richtern mit Kontakten in die Organisierte Kriminalität.
Laut BGH muss ein Richter „jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ eintreten, erklärte Rüdiger Pamp, der Vorsitzende Richter des Dienstgerichts. Diese Formel wurde auch bei Berufsverboten gegen Ex­tre­mis­t:in­nen in den 1970er Jahren benutzt. Eine präventive Versetzung in den Ruhestand hält der BGH bei Maier für gerechtfertigt, weil er sächsischer Obmann beim AfD-Flügel war, den der Verfassungsschutz bis zu seiner formalen Auflösung als „gesichert rechtsextremistische Strömung“ einstufte.
Maier sieht sich nicht als Gefahr für sächsische Justiz
Gegen die Erwartung, Maier werde künftig sein Amt unabhängig und vorurteilsfrei ausüben, spricht laut BGH auch ein Tweet, der 2019 von Maiers Twitter-Account veröffentlicht wurde: „Wenn Angeklagte ‚AfD-Richter‘ fürchten, haben wir alles richtig gemacht.“ Zwar behauptete er, der Tweet stamme von einem Mitarbeiter, doch er distanzierte sich nicht. Maier sei nicht Opfer einer „künstlich erzeugten Empörung“, geworden, so Pamp, sondern habe sie mit seinen Äußerungen selbst erzeugt, etwa indem er die NS-Aufarbeitung als „Schuldkult“ bezeichnete, mit dem endlich Schluss sein müsse.
Anwalt Jochen Lober hatte vor allem argumentiert, dass Jens Maier zwischen Herbst 2017 und Herbst 2021 gar kein Richter war, sondern Abgeordneter. Die meisten beanstandeten Äußerungen seien unverwertbar, weil Maiers Richterpflichten in dieser Zeit ruhten. Darauf komme es aber nicht an, so der BGH. Entscheidend sei vielmehr der Eindruck, Maier werde künftig sein Verhalten als Richter an seinen persönlichen Ansichten statt an Rechtstreue, Objektivität und Allgemeinwohl ausrichten.
Maier nahm an der Verhandlung persönlich teil und ergriff auch das Wort. Er beklagte sich, dass er „verteufelt“ werde. Als Gefahr für das Ansehen der sächsischen Justiz sehe er sich nicht. „In Dippoldiswalde wählen 35 Prozent der Leute AfD. Wenn ich dort rede, vertrete ich Volkes Meinung.“ Seine Versetzung in den Ruhestand ist keine Strafe und keine Disziplinarmaßnahme für Verfehlungen, sondern eine präventive Maßnahme. Maier bekommt weiterhin sein Ruhestandsgehalt von einigen Tausend Euro pro Monat.
Das aber soll nicht so bleiben. Justizministerin Katja Meier hat Ende Juli zusätzlich noch ein Disziplinarverfahren gegen Maier eingeleitet, mit dem Ziel, ihn ganz aus dem Richteramt zu entfernen. Wann das Richterdienstgericht in Leipzig darüber entscheidet, ist noch offen.
https://taz.de/



DEUTSCHLAND
Holocaust-Gedenken: "Es kann keinen Schlussstrich geben"

Es war eine Premiere: Erstmals würdigte der Bundestag auch jene Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden.
27.01.2023
Mit einer feierlichen Gedenkstunde hat der Bundestag am Holocaust-Gedenktag an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung erinnert. Zum ersten Mal standen dabei verfolgte Homosexuelle und weitere Angehörige sexueller Minderheiten im Mittelpunkt. Schwule Männer, aber auch lesbische Frauen und Transsexuelle wurden im Gefängnis und in Konzentrationslagern gequält.
Erst 1994 wurde § 175 abgeschafft
Ihr Leid war 1945 nicht zu Ende: Der von den Nazis verschärfte Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, galt in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert fort. Erst 1994 wurde er vollständig abgeschafft.
"Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen", sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in der Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag. "Am härtesten traf es die vielen Tausend Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Sexualität - teils unter Vorwänden - in Konzentrationslager deportiert wurden." Viele dieser Menschen waren allgegenwärtiger Gewalt demnach ungeschützt ausgesetzt. "Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht", sagte Bas.
Holocaust darf nicht relativiert werden
Auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten hätten sexuelle Minderheiten lange vergebens gewartet. Auch mit Blick auf die heutige Zeit mahnte Bas, bei Diskriminierungen queerer Menschen genauer hinzusehen. "Queer-feindliche Straftaten nehmen zu", sagte die SPD-Politikerin. "Schwule, Lesben und Trans-Personen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen."
Nachdrücklich mahnte Bas zum Gedenken an die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. "Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren", sagte die Bundestagspräsidentin. "Es kann keinen Schlussstrich geben", stellte sie klar. Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nähmen wieder zu. Fünf antisemitische Straftaten würden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. "Das ist eine Schande für unser Land", so Bas.Mit einer feierlichen Gedenkstunde hat der Bundestag am Holocaust-Gedenktag an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung erinnert. Zum ersten Mal standen dabei verfolgte Homosexuelle und weitere Angehörige sexueller Minderheiten im Mittelpunkt. Schwule Männer, aber auch lesbische Frauen und Transsexuelle wurden im Gefängnis und in Konzentrationslagern gequält.
Erst 1994 wurde § 175 abgeschafft
Ihr Leid war 1945 nicht zu Ende: Der von den Nazis verschärfte Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, galt in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert fort. Erst 1994 wurde er vollständig abgeschafft.
"Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen", sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in der Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag. "Am härtesten traf es die vielen Tausend Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Sexualität - teils unter Vorwänden - in Konzentrationslager deportiert wurden." Viele dieser Menschen waren allgegenwärtiger Gewalt demnach ungeschützt ausgesetzt. "Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht", sagte Bas.
Holocaust darf nicht relativiert werden
Auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten hätten sexuelle Minderheiten lange vergebens gewartet. Auch mit Blick auf die heutige Zeit mahnte Bas, bei Diskriminierungen queerer Menschen genauer hinzusehen. "Queer-feindliche Straftaten nehmen zu", sagte die SPD-Politikerin. "Schwule, Lesben und Trans-Personen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen."
Nachdrücklich mahnte Bas zum Gedenken an die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. "Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren", sagte die Bundestagspräsidentin. "Es kann keinen Schlussstrich geben", stellte sie klar. Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nähmen wieder zu. Fünf antisemitische Straftaten würden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. "Das ist eine Schande für unser Land", so Bas.
Die 1942 in Amsterdam geborene Holocaust-Überlebende Rozette Kats erinnerte in einer emotionalen Rede an ihr Schicksal. Sie sagte, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag habe ihr Pflegevater ihr erklärt, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden, weil sie Juden waren. Kats wuchs bei Adoptiveltern auf, die sie mit dem Namen Rita als deren eigenes Kind ausgaben. Vor dem Hintergrund dieser Selbstfindung und Identitätssuche setzt die Niederländerin sich auch für Menschen ein, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität benachteiligt sind.
Schwule Männer litten auch nach 1945
Als Vertreter der queeren Community sprach Klaus Schirdewahn aus Mannheim, der selbst 1964 nach dem in der Nazi-Zeit verschärften Paragraphen 175 verhaftet worden war. Noch immer sei die queere Community Bedrohungen und Benachteiligungen ausgesetzt: "Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich", sagte Schirdewahn.
Die Schauspieler Jannik Schümann und Maren Kroymann stellten die nationalsozialistische Verfolgung sexueller Minderheiten anhand der Lebensgeschichten von Karl Gorath und Mary Pünjer vor. Gorath überlebte die Konzentrationslager Neuengamme und Auschwitz, Pünjer wurde in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.
Die offen transsexuell lebende Abgeordnete Nyke Slawik sprach von einer "sehr bewegenden Gedenkstunde". Der Kampf um Gleichberechtigung gehe weiter, sagte die Grünen-Politikerin der Deutschen Welle.
Bundespräsident Roman Herzog hatte 1996 den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945, zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
nob/as/uh/jj/tl (dpa, afp, kna, epd)
https://www.dw.com/de/


»Es kann keinen Schlussstrich geben«
Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit. Zum Jahrestag erinnerte das Parlament in Berlin besonders an die queeren Opfer der NS-Ideologie. Diese hätten auch in der Bundesrepublik lange um Anerkennung kämpfen müssen.
27.01.2023, 14.10 Uhr
Viele wurden mit erlittenem Unrecht lange allein gelassen: Zum internationalen Holocaust-Gedenktag hat der Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert und dabei Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung verfolgt wurden.
»Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen«, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Dies habe viele Menschen betroffen, die aufgrund ihrer Sexualität in Konzentrationslager deportiert wurden. Und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus habe es für diese Menschen »kein Ende der staatlichen Verfolgung« gegeben. In beiden Teilen Deutschlands habe der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches weiter gegolten.
Noch immer wisse man zu wenig über das Schicksal vieler Opfergruppen, sagte Bas. Dies gelte etwa für lesbische Frauen, die als »Asozial« verfolgt worden seien – und die Kriminalisierung aufgrund der geschlechtlichen Identität unsichtbar gemacht worden sei. »Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen.«
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Manche Menschen würden glauben, Deutschland habe sich bereits genug mit der Schoa beschäftigt, fügte Bas an. »Das ist ein Irrtum. Es kann keinen Schlussstrich geben.«
https://www.spiegel.de/


75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung
Die Justiz schonte oft die Täter

04:36 Minuten
Ein Hinweis von Matthias Buth · 27.01.2020
Nur wenige Täter wurden für den Massenmord in Auschwitz zur Verantwortung gezogen. Zahlreiche Mithelfer kamen glimpflich oder mit Freispruch davon. Politik und Justiz haben versagt, meint der Jurist und Lyriker Matthias Buth.
Heute am 27. Januar 2020 – im Beethoven- und Hölderlin-Jahr – sprechen sie wieder zu uns: alle sechs Millionen, die aufgegangen sind im Rauch der Verbrennungsöfen von Auschwitz und in den anderen KZs in Europa. Alle Ermordeten sind aufgebrannt in die Gedächtnishaut der Deutschen, jetzt und immer.
Die Fahnen klirren im Wind. Welche umarmenden Gedichte und welch zärtliche Musik sind nie geschrieben und komponiert worden! Wie sehr würden sich Beethoven und Hölderlin schämen, wüssten sie, was unsere Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter taten und was sie unterließen und wie viele Enkel und Urenkel immer noch wegsehen, nicht wahrhaben wollen, verschweigen und verdrehen, was in den meisten Familien bleiben wird: das Singen und Klagen, das Bitten und Flehen unserer Brüder und Schwestern, die nicht sterben wollen, die immer noch nicht sterben wollen, die bei uns bleiben.
Sie hören uns zu.
Geprägt von Schlussstrichmentalität
Über 20.000 Personen der SS waren in den KZs als Wachpersonal eingesetzt. Und es gab in Europa mit allen Außenlagern 1634 KZs. Eine unvorstellbare Anzahl. Seit den Nürnberger Prozessen vor Gründung der Bundesrepublik in den Jahren 1946 bis 1949, wo die „Hauptkriegsverbrecher“ vor Gericht standen, prägte uns Deutsche die Schlussstrichmentalität.
Die Rechtsprechung und Strafrechtskommentarwerke halfen mit. Der Bundesgerichtshof vertrat nämlich bis vor fünf Jahren die sogenannte Animus-Theorie, wonach Täter der Massenmorde nur diejenigen sein konnten, welche die Tat als eigene gewollt hätten. Damit konnten sich die meisten freistellen und die eigene Tat dem höher gestellten in der SS-Hierarchie überantworten. Man war dann allenfalls Gehilfe der Mordtaten.
So blieb es sieben Jahrzehnte.
Die dunkle Bilanz der Justiz
Dieses Verhalten der Strafrechtspflege macht das Desaster bei der „Aufarbeitung“ der NS-Morde deutlich. Nachdem nun fast alle Täter verstorben sind, und die allerletzten Prozesse gegen KZ-Wächter geführt wurden und werden, hatte der Bundesgerichtshof ein Einsehen und hat die Animus-Theorie aufgegeben und erkennt zurecht, dass maßgeblich für den Mittäter in den Todesfabriken das Erkennen und Handeln im Rahmen des staatlichen Gesamtauftrages der KZs war, nämlich die planmäßige Ermordung von Millionen Menschen. War dies gegeben, war der Tatbeitrag Mord.
Die Prozesse „Demjanjuk“ und „Gröning“ gaben die Wende. Zu spät. Viel zu spät.
Die „kalte Amnesie“ der Politik
Diese Bilanz der Justiz wird noch dunkler mit Blick auf den ehemaligen NS-Staatsanwalt Eduard Dreher, der es als leitender Beamter im Bundesjustizministerium schaffte, eine Vielzahl der Gehilfen an den Massenmorden straffrei zu bekommen – durch das Verfahrenshindernis der Verjährung, das er 1964 geschickt in das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz einbaute.
Nicht verständlich bleibt jedoch, dass der Deutsche Bundestag das mit sich hat machen lassen und auch zu einem späteren Zeitpunkt diesen Skandal der „kalten Amnestie“ nicht abgestellt hat.
Die Toten mahnen
Und was bleibt nun nach allem? Verzweiflung und Abscheu?
Nein. Deutschland ist ein Bürgerland, eines, das auch Geist, Kraft und Mut hat. Staatsbürger sind wir alle. Die Millionen von Auschwitz bleiben uns nahe, wie alle, die in Rauch aufgegangen sind, und die zu uns sprechen wollen. Hören wir ihnen endlich zu!
Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal geboren. Er ist Lyriker und Publizist und veröffentlichte zahlreiche Prosa- und Gedichtbände, 2019 die Sammlung mit neuer Lyrik „Weiß ist das Leopardenfell des Himmels“, der sich im Frühjahr das Rumänien-Buch „Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer“ anschließen wird. Der promovierte Jurist war bis Ende 2016 Justiziar im Kanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und ist nunmehr Rechtsanwalt.
© Quelle: privat
https://www.deutschlandfunkkultur.de/


Fast die Hälfte der Deutschen will „Schlussstrich“ unter NS-Vergangenheit

Veröffentlicht am 02.09.2022 |
Von Kevin Culina
Volontär Innenpolitik / Axel Springer Academy of Journalism and Technology
Antisemitische Beschimpfungen, Schmierereien und Angriffe – die Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden sind deutlich gestiegen. In Deutschland haben sich 2021 im Schnitt sieben antisemitische Vorfälle pro Tag ereignet.
Während Israelis positiv auf Deutschland blicken, denken viele Deutsche schlecht von Israel, zeigt eine Studie. Zudem ist bei vielen Bürgern hierzulande der Wunsch nach einem „Schlussstrich“ mit Blick auf den Nationalsozialismus ausgeprägt. Der Zentralrat der Juden ist besorgt.
Ein Drittel der Deutschen hat ein schlechtes Bild von Israel, während 46 Prozent der Deutschen eine gute Meinung vom jüdischen Staat haben. Unter Israelis kommt Deutschland hingegen sehr gut weg: Knapp zwei Drittel gaben an, ein sehr oder ziemliches gutes Bild von der Bundesrepublik zu haben. Nur 19 Prozent der Israelis haben eine schlechte Meinung von Deutschland.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine am Freitag veröffentlichte Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung. Für die repräsentative Umfrage wurden im September vergangenen Jahres 1271 Deutsche und 1372 Israelis befragt. Die Pollytix Strategic Research GmbH übernahm den deutschen Teil, New Wave Research den israelischen. Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte die Untersuchung kurz vor dem Staatsbesuch des israelischen Staatspräsidenten Jitzchak Herzog ab Sonntag.
Gerade die Einstellung der Deutschen zu ihrer mörderischen Geschichte lässt aufhorchen. So will die Hälfte (49 Prozent) einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ des millionenfachen Judenmords durch das nationalsozialistische Deutschland ziehen; nur ein Drittel hält das für falsch. Lediglich 14 Prozent der Israelis stimmen der Aussage nach einem „Schlussstrich“ zu.
„Diese Zahl ist einerseits erschreckend, andererseits spiegelt sie leider unsere Wahrnehmung wider“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, mit Blick auf die deutsche „Schlussstrich“-Antwort. Schuster sieht Politik, Bildungseinrichtungen und Zivilgesellschaft in der Pflicht, diesen Tendenzen entgegenzutreten. „Bei den Überlebenden und deren Nachfahren bis in die dritte Generation sind die Traumata täglich präsent. Für sie ist ein Schlussstrich schlicht nicht möglich“, so Schuster zu WELT.
57 Prozent der Israelis leiten aus der historischen Schuld Deutschlands auch einen Auftrag für die aktuelle Politik ab, zeigt die Untersuchung. Sie sprechen Deutschland eine „besondere Verantwortung für Israel“ zu. Eine solche Verpflichtung für vor Krieg und Verfolgung flüchtende Menschen sehen 47 Prozent der Israelis als Resultat der deutschen Geschichte, lediglich ein Drittel der Deutschen stimmt dem zu.
Israelis fühlen sich zudem nicht ausreichend von der deutschen Politik unterstützt. So zeigen die Ergebnisse, dass mehr als die Hälfte von ihnen mehr Unterstützung Israels in der internationalen Politik durch den deutschen Staat erwartet, während lediglich 22 Prozent der Deutschen das auch so sehen. Deutlich wird dies im Blick auf den Nahost-Konflikt: Hier erwartet die Hälfte der Israelis Zugeständnisse der Palästinenser, wohingegen die überwiegende Mehrheit der Deutschen beide Seiten gleichermaßen in der Pflicht sieht.
Die Ergebnisse zeigen auch, dass nur sehr wenige Deutsche überhaupt jemals in Israel waren. Während 42 Prozent der befragten Israelis bereits Deutschland bereist haben, waren umgekehrt 93 Prozent der Deutschen noch nie im jüdischen Staat. Und das, obwohl mehr als die Hälfte der Deutschen ein mittelmäßig bis starkes Interesse am israelischen Staat angibt.
Im Schnitt sieben antisemitische Vorfälle pro Tag in Deutschland
Antisemitische Beschimpfungen, Schmierereien und Angriffe – die Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden sind deutlich gestiegen. In Deutschland haben sich 2021 im Schnitt sieben antisemitische Vorfälle pro Tag ereignet.
Hier bestehe eine Spannung zwischen der „politischen Beschwörung der engen Verbindungen zwischen beiden Ländern“ und der „tatsächlichen Ausprägung dieser Kontakte auf gesellschaftlicher Ebene“, schreiben die Autoren der Studie, Jenny Hestermann, Roby Nathanson und Stephan Stetter. Man könne bei Deutschen entsprechend von einem „distanzierten Interesse ohne das Streben nach persönlichen Erfahrungen vor Ort“ sprechen.
„Wer Israel nur aus den Nachrichten kennt, kennt das Land fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt“, sagt Schuster WELT hierzu. Das gelte auch für den Schulunterricht. „Ein ausgewogenes Bild von Israel als einziger Demokratie im Nahen Osten wird selten vermittelt“, so Schuster. Und dabei könne nur so Empathie für die Lebenssituation der Israelis entstehen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden erinnert hierbei an das deutsch-israelische Jugendwerk, das seit Jahren in der Diskussion ist. Zwar wurde dies 2018 vom Bundestag beschlossen, seitdem ist jedoch kein großer Fortschritt in der Sache erfolgt. „Das wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, Land und Leute jenseits der Geschichten von Konflikt und Krise kennenzulernen, die die Diskussionen um Israel oft dominieren“, so Schuster zu WELT. An der „Erfolgsgeschichte“ der intensiven deutsch-israelischen Beziehungen müsse stetig weitergearbeitet werden, appelliert Schuster an die Politik.
Viele Deutsche mit klar antisemitischen Positionen
Die Studie der Bertelsmann-Stiftung offenbart auch: Eine beträchtliche Anzahl von Deutschen vertritt klar antisemitische Positionen in Bezug auf Israel. Mehr als ein Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu, dass Israel sich zu den Palästinensern wie die Nationalsozialisten zu den Juden verhalte. Und 21 Prozent der Deutschen gaben an, dass die israelische Politik ihnen „die Juden immer unsympathischer“ erscheinen ließen.
Ein Viertel der Deutschen denkt, Juden hätten „in der Welt zu viel Einfluss“. Auffällig hierbei: Knapp die Hälfte der AfD-Anhänger stimmt dieser Aussage laut Studie zu. Dies deckt sich mit anderen Erhebungen, über die WELT berichtete.
„Die Unterschiede in der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Deutschen und Israelis sind auch das Resultat unterschiedlicher Sicherheitslagen und unterschiedlicher politischer Kulturen“, so Stephan Vopel, Israel-Experte der Bertelsmann-Stiftung, zu den Ergebnissen. „Für die allermeisten Deutschen gilt weiter die Maxime ‚Nie wieder Krieg‘ – für die Israelis heißt es ‚Nie wieder Opfer‘.“
https://www.welt.de/politik/deutschland/


Die Deutschen und der Holocaust
Schluss mit Schlussstrich?

Die Erinnerungskultur der Deutschen galt lange als vorbildlich. Aber dennoch: Rechte Kräfte sind wieder auf dem Vormarsch. Rückt das Gedenken an den Holocaust in den Hintergrund?
Videolänge:44 min Datum:05.12.2020
Verfügbarkeit:
Video verfügbar bis 08.11.2024, in Deutschland, Österreich, Schweiz
Deutschland ist polarisiert wie lange nicht. Der Aufstieg der AfD, das Attentat von Halle, rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, Holocaustleugner in sozialen Medien und Judensterne auf Corona-Demos. Wie groß ist die Gefahr von rechts?
Was wissen die Deutschen über den Holocaust?
Eine exklusive Umfrage im Auftrag des ZDF zeigt: Das Wissen der Deutschen hat noch immer große Lücken. Zwar wissen 77% der Befragten, dass der Holocaust die Vernichtung der Juden meint. Doch knapp ein Viertel (23%) gibt eine falsche Antwort oder weiß nichts mit dem Begriff anzufangen. Jede vierte Person (26%) gesteht ihre Wissenslücken auch ein und gibt an, wenig oder nichts über den Holocaust zu wissen.
Ein nicht unerheblicher Teil der Befragten möchte mit der Vergangenheit am liebsten abschließen. Ganze 28% stimmen der Aussage zu, die Deutschen sollten einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen.
Der Wissenschaftler Samuel Salzborn sieht bei vielen Deutschen ein Bedürfnis nach „kollektiver Unschuld“. Er sagt im Interview: „Es ist die größte Lebenslüge der Bundesrepublik zu behaupten, man habe die Schoa aufgearbeitet, sich mit dem Nationalsozialismus intensiv auseinandergesetzt.“
Tatsächlich denkt knapp die Hälfte der Befragten (47%), die meisten Deutschen damals hätten „nicht so viel“ bis keinerlei Schuld an der Vernichtung der Juden getragen. 81 Prozent der Befragten sagen, vom Holocaust hätten die meisten Deutschen nichts oder nichts Genaues gewusst.
Dass Antisemitismus auch im heutigen Deutschland ein Problem ist, glaubt nur eine Minderheit der Befragten. 78 Prozent der Befragten sind der Meinung, es gebe heute kaum bis keine Judenfeindlichkeit in Deutschland.
Stephan J. Kramer, Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, sieht akuten Handlungsbedarf: „Ich fordere von der Politik, dass wir die mittlerweile drei Antisemitismusberichte im Deutschen Bundestag, die fast jährlichen Resolutionen, ernst nehmen. Wir brauchen keine Sonntagsreden, sondern wir brauchen Action.“
Der Film geht folgenden Fragen nach:
Wie gehen die Deutschen 75 Jahre nach Kriegsende mit ihrer dunklen Vergangenheit um? Ziehen sie die richtigen Lehren aus der Geschichte? Wie stark sind die Kräfte, die gar einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsbewältigung ziehen wollen?
Der Anschlag von Halle 2019 zeigt, dass Antisemitismus in Deutschland wieder eskalieren kann. Der angeklagte Stephan Balliet hatte sich still und leise im Netz radikalisiert. Dort kursiert auch antisemitische Hetze. Der Film wirft einen Blick auf die rechte Online-Szene und zeigt, wie sie sich in der Corona-Krise auch ganz offen mit auf die Straße wagt.
Zugleich kommen auch in staatlichen Sicherheitsbehörden, in Polizei und Bundeswehr, in Justiz und Verfassungsschutz, zunehmend rechte Tendenzen ans Licht. Was lässt sich dagegen tun? Der Film begleitet junge Polizeianwärter bei einem Rundgang durch die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Dort wird die historische Verantwortung für die angehenden Polizisten spürbar.
Die deutsche Polizei verzeichnete 2019 so viele antisemitische Delikte wie seit 2001 nicht mehr. Um Vorurteile gegen Juden zu bekämpfen, gehen im Rahmen der Initiative „Meet A Jew“ junge jüdische Menschen wie Noam und Galina in Schulklassen und geben Einblicke in ihre Religion und ihr Leben. Die jungen Frauen wollen zeigen: Jüdisches Leben in Deutschland ist stark und vielfältig.
Wie sich der Holocaust auch kommenden Generationen vermittelt lässt, das erforscht in München ein Team von Wissenschaftlern um Anja Ballis. Das Team hat Holocaust-Überlebenden 1000 Fragen gestellt und sie mit modernster Technik als 3D-Projektionen aufgezeichnet. Für unseren Film testen erstmals Schüler die neue Technik.
https://www.zdf.de/dokumentation/


NATIONALSOZIALISMUS
Die Deutschen wollen keinen Schlussstrich

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Eine Umfrage im Auftrag der DW zeigt: Die Deutschen wollen die Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus wachhalten.
Datum 24.01.2020
Autorin/Autor Oliver Pieper
Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee die wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen wurden dort ermordet, vor allem Juden gehörten zu den Opfern. 1996 wurde der 27. Januar auf Initiative des Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, 2005 zogen die Vereinten Nationen nach und erklärten den 27.1. zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.
Der Antisemitismus ist in den vergangenen Jahren in Deutschland wiedererstarkt, antisemitische Gewalttaten nehmen zu und immer häufiger werden Deutsche jüdischen Glaubens sogar auf offener Straße attackiert. Trauriger Höhepunkt war der Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019: der Versuch, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur die Synagoge zu stürmen und die 51 dort betenden Menschen zu ermorden.
Meinungsforscher Roberto Heinrich
Meinungsforscher Roberto Heinrich von infratest dimap
Wie wichtig ist den Deutschen in diesen Zeiten die Erinnerungskultur an den Holocaust? Die Deutsche Welle hat infratest dimap beauftragt, diese Frage zu untersuchen. Das Meinungsforschungsinstitut führte in einer repräsentativen Stichprobe 1018 Telefoninterviews durch. Die Ergebnisse sind, wie es Meinungsforscher Roberto Heinrich zusammenfasst, "im Großen und Ganzen beruhigend".
Mehrheit der Deutschen steht zur Verantwortung
Auf die Frage "Wenn Sie jetzt einmal an den Nationalsozialismus denken: Würden Sie sagen, an die Verbrechen des Nationalsozialismus wird zu viel erinnert, in angemessenem Umgang erinnert oder zu wenig erinnert?", gab mehr als die Hälfte der befragten Personen an, der Umfang der Erinnerungskultur sei genau richtig. Jedem vierten Deutschen sind diese Erinnerungen zu viel, jeder sechste Deutsche meint hingegen, es werde in Deutschland zu wenig an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert.
Infografik 75 Jahre Befreiung Auschwitz Erinnerungskultur DE
"Kürzlich sagte jemand: 'Wir sollten uns fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so viel mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, sondern endlich einen Schlussstrich ziehen.' Würden Sie sagen, der hat recht oder nicht recht?", so lautete die zweite Frage der Studie. Mit 60 Prozent antwortete eine deutliche Mehrheit, dass sie gegen einen solchen Schlussstrich sei. 37 Prozent der Befragten befürworten dagegen, die Zeit des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen.
Infografik 75 Jahre Befreiung Auschwitz Schlussstrich DE
Nach der Erinnerungskultur und der Schlussstrich-Debatte ging es in einem dritten Fragenkomplex um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Für drei von vier Befragten sollte der Besuch einer KZ-Gedenkstätte wie zum Beispiel Auschwitz oder Buchenwald in Zukunft Bestandteil des Schulunterrichts sein.
Immerhin 61 Prozent unterstützen eine Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine knappe Mehrheit (55 Prozent) hält es dagegen nicht für notwendig, politisch Asylsuchenden verpflichtend Kenntnisse über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vermitteln.
Infografik 75 Jahre Befreiung Auschwitz Umgang DE
Höhere Bildung fördert Erinnerungsbereitschaft
"'Bildung hilft', war die erste Reaktion eines Kollegen von mir, als er sich die Teilaspekte der Studie anschaute", sagt Meinungsforscher Roberto Heinrich. Besonders signifikant ist dies bei der Schlussstrich-Debatte: Während mit 21 Prozent nur jeder Fünfte mit Abitur und Fachhochschulreife für einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus ist, fordern dies mit 56 Prozent mehr als die Hälfte derjenigen mit Haupt- oder Volksschulabschluss.
"Es gibt insgesamt eine klare Mehrheit, die sagt, dass wir uns weiter mit der Thematik des Nationalsozialismus beschäftigen müssen", so lautet für Heinrich das Fazit der Studie.
Dass sich das politische und gesellschaftliche Klima in Deutschland trotzdem verändert hat, zeigt der Vergleich mit den Ergebnissen der Umfragen "Memo Deutschland - Multidimensionaler Erinnerungsmotor" von 2018 und 2019. Waren vor zwei Jahren nur 26 Prozent für einen Schlussstrich unter die Nazizeit, stieg dieser Wert im Vorjahr auf 33 Prozent. Bei der aktuellen Befragung von infratest dimap im Auftrag der DW sind es weitere vier Prozentpunkte mehr.
Antisemitismusbeauftragter klagt über Brutalisierung
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, äußerte sich insgesamt "besorgt" über die Umfrage-Ergebnisse. Im Gespräch mit der DW sagte Klein, die Ergebnisse zeigten, dass viele Deutsche das Gefühl hätten, Opfer zu sein, zur Erinnerung gezwungen zu werden. "Wir müssen deutlich machen, dass unsere Erinnerungskultur kein Selbstzweck ist, sondern wichtig für unsere Gesellschaft heute", erläuterte Klein weiter.
Insgesamt habe sich die Lage für Juden in Deutschland verschlechtert. Vor allem die Sozialen Medien hätten zu einer "Brutalisierung" beigetragen. "Wir müssen alles tun, um dem entgegen zu wirken", betonte Klein.
https://www.dw.com/


Schlussstrichdebatte bezüglich der Verbrechen des Nationalsozialismus 2020

Gesellschaft› Geschichte
Veröffentlicht von
Bernhard Weidenbach
, 30.06.2022
In einer im Januar 2020 durchgeführten Umfrage angesichts des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz sprachen sich 60 Prozent der Befragten gegen einen Schlussstrich im Bezug auf die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus aus. 37 Prozent der Befragten waren dafür.
Machtergreifung der Nationalsozialisten und Zweiter Weltkrieg
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, schaffte die junge Demokratie ab (Machtergreifung) und errichtete eine Diktatur in der jüdische Bürger, Minderheiten und politisch Andersdenkende verfolgt und getötet wurden. Das nationalsozialistische Deutschland ermordete mehr als sechs Millionen jüdische Menschen in ganz Europa und entfesselte durch den Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg, der mehr als 70 Millionen Menschenleben forderte.
Nationalsozialistische Ideologie
Die durch staatlichen Antisemitismus vorangetriebene Ideologie der Nationalsozialisten sah die Vernichtungen von "lebensunwertem Leben" vor. "Unwerte" Völker sollten getilgt werden, um den "arischen" Rassen an deren Stelle ein Leben zu ermöglichen. Das erklärte Ziel des NS-Regimes war die vollkommene Auslöschung des jüdischen Volkes und anderer Minderheiten wie Sinti und Roma sowie Homosexuelle.
Weitere Informationen zu historischen Themen finden Sie hier.
Weiterlesen
Schlussstrichdebatte: Wir sollten uns fast 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr so viel mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, sondern endlich einen Schlussstrich ziehen. [Allgemein und nach Parteianhängern]
WEITERE STATISTIKEN ZUM THEMA
Nationalsozialismus: Wissensstand und Gedenken
Zahl der Toten nach Staaten im Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1939* bis 1945
GESCHICHTE
Zahl der Toten nach Staaten im Zweiten Weltkrieg 1939-1945
Opferzahlen der durch das nationalsozialistische Regime und seiner Verbündeten von 1933 bis 1945 ermordeten Zivilisten und Kriegsgefangenen
GESCHICHTE
Opferzahlen der durch das nationalsozialistische Regime ermordeten Menschen
Anzahl der Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) in den Jahren 1929 bis 1945 (in Millionen)+
GESCHICHTE
Mitglieder der NSDAP 1929-1945
Gesamtanzahl der Todesopfer im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nach Ethnie in den Jahren 1940 bis 1945
GESCHICHTE
Gesamtanzahl der Todesopfer in Auschwitz-Birkenau 1940-1945
https://de.statista.com/


Ernst Nolte:
Schlussstrich unter die NS-Zeit?

Eine 30 Jahre alte Debatte um die Deutung der Naziverbrechen – klingt angestaubt. Vier Gründe, warum wir gerade jetzt wissen müssen, was Ernst Nolte 1986 losgetreten hat
Ein Gastbeitrag von Kiran Klaus Patel, Maastricht
20. August 2016, 11:46 Uhr
Die Massengewalt der Nationalsozialisten, eine Reaktion auf die Mordaktionen der sowjetischen Kommunisten? Die Taten Hitlers und der Nationalsozialisten – ein Akt der Notwehr gegenüber den zuvor verübten Menschheitsverbrechen der Bolschewiki? Hitler selbst nicht so sehr angetrieben von aggressivem Antisemitismus und Rassismus, sondern in erster Linie von der Angst vor den Linken?
Was der Historiker Ernst Nolte 1986 in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (hier im Original nachzulesen) schrieb, ließ sich leicht als Entlastung des Diktators und der Deutschen lesen – auch wenn Nolte, der am Donnerstag mit 93 Jahren starb, diese Lesart seiner Thesen stets ablehnte. Da er seine entscheidenden Argumente als rhetorische Fragen formulierte und geschichtsphilosophisch verbrämte, ließ sein Artikel solche Interpretation durchaus zu.
Dreißig Jahre ist der Streit, den Nolte damit auslöste, jetzt her – die deutsche Mauer längst gefallen, die Sowjetunion zersplittert, und die Aufarbeitung der NS-Geschichte irgendwie angestaubter Pflichtschulstoff. Müssen wir diesen Aufreger aus den Achtzigern anlässlich des Todes Noltes wirklich noch mal durchkauen? Ja unbedingt! Vier Gründe, warum:
1) Weil sich die Nazizeit nicht abhaken lässt
Geschichtsbild und Selbstverständnis der heutigen Bundesrepublik beziehen sich stark auf die Debatte der späten Achtziger. Denn im Streit um Noltes Thesen setzten sich in der öffentlichen Diskussion letztlich die Kritiker des Berliner Historikers durch. Radikaler Antisemitismus und Rassismus stehen seither im Kern der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte.
Die historische Verantwortung Deutschlands am Holocaust und anderen Verbrechen der NS-Zeit darf man nicht kleinreden. Es lässt sich auch kein Schlussstrich unter sie ziehen. Als Ergebnis des Historikerstreits wurde so der kritische Umgang der Bundesrepublik mit der eigenen Geschichte zementiert. Das ist bemerkenswert, da sich Deutschland in den Jahrzehnten davor dieser Vergangenheit keineswegs immer mustergültig gestellt hatte. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten hatte man den Holocaust nämlich nicht als den Kern des Nationalsozialismus gesehen.
2) Weil Rechtspopulisten die Geschichte umdeuten wollen
In Gesellschaften wie Polen, Ungarn, Russland oder in der Türkei und Indien setzen die Regierungen heute darauf, dunkle Kapitel der eigenen Geschichte unter den Tisch zu kehren. Umso mehr erscheint Deutschlands reflektierter und differenzierter Umgang mit der eigenen Geschichte als eine Errungenschaft, die viel zur internationalen Verständigung beitragen kann.
Diesen hart erkämpften Konsens in Bezug auf die deutsche Geschichte fordert heute etwa die AfD heraus. Der AfD-Vorsitzende in Sachsen-Anhalt André Poggenburg will den von den Nazis viel gebrauchten Begriff der Volksgemeinschaft aus dem Giftschrank der deutschen Geschichte holen. Poggenburg bezieht sich dabei auf Nolte, aber etwa auch auf den renommierten Zeithistoriker Michael Wildt, dessen Arbeiten er für seine rechtspopulistischen Thesen zu missbrauchen versucht.
Die Vergangenheit ist für immer vorüber. Wie man mit der Geschichte umgeht, ist jedoch immer das Ergebnis von Interpretationen – faktengestützten oder abwegigen. Deutungen sind niemals endgültig festgeschrieben. Jede Generation muss sie kritisch hinterfragen und sie sich erneut aneignen. Daran zeigt sich, wie gefährlich Tabubrüche am rechten Rand sind.
3) Weil wir unsere Streitkultur verteidigen müssen
Zugleich unterscheidet sich die Gegenwart stark vom Deutschland des Historikerstreits. Nicht nur, weil das Land damals in Bundesrepublik und DDR geteilt war und es sich im Wesentlichen um eine westdeutsche Debatte handelte. Der Streit polarisierte auch stark. Zwischen rechts und links wurde klar unterschieden, vor allem gab es einen tiefen Graben zwischen Christ- und Sozialdemokraten. Auch die Wissenschaftler, die zum Historikerstreit beitrugen, wurden klar mit politischen Lagern identifiziert. Raum für Zwischentöne gab es wenig.
Zwei Jahre lang zog sich der Streit damals hin
Heute kennt man das aus anderen Gesellschaften, etwa den USA. Schon vor Donald Trump war die politische Diskussion dort stark polarisiert. Das Brexit-Referendum hat im Vereinigten Königreich ähnliche Tendenzen befördert. Dagegen ist hierzulande der Ton zwischen den etablierten Parteien und in der Geschichtsschreibung im Vergleich zu den 1980er Jahren deutlich ziviler geworden. Die Eurokrise, die unklare Zukunft der EU und eine wachsende Zahl an Flüchtlingen haben dieser eindrucksvollen Streitkultur in den letzten Jahren zugesetzt. An ihr festzuhalten ist ein hohes und keineswegs selbstverständliches Gut, wie sich am Historikerstreit zeigt.
Daneben war das Tempo der damaligen Debatte bemerkenswert. Über ein Monat verstrich, bis der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas mit einem Beitrag in der ZEIT (den Originalartikel lesen Sie hier) die Kritik an Nolte eröffnete. Die meisten FAZ-Leser dürften in den dazwischenliegenden Wochen Noltes Text längst vergessen haben. Die sich anschließende Diskussion fand im Wesentlichen in Zeitungsartikeln und Leserbriefen in den Intellektuellenblättern der Republik statt. Die Meinungseliten stritten sich; sie behielten aber die Deutungshoheit. Außerdem zog sich die Kontroverse über zwei Jahre hin. In Zeiten von sozialen Medien wäre all das nicht mehr denkbar. Debatten heute sind demokratischer und schneller, teils aber auch oberflächlicher geworden.
4) Weil Europas Probleme auch mit Geschichtsdeutung zu tun haben
Erinnern muss man an Nolte und den Historikerstreit auch aus einem letzten Grund. Wissenschaftlich war der Streit wenig ergiebig. Phasenweise galt es als Tabubruch, nationalsozialistische und andere Gewaltverbrechen miteinander zu vergleichen. Denn an Nolte hatte sich gezeigt, dass dies leicht auf eine Verharmlosung des Holocaust hinauslaufen kann.
Seit dem Ende des Kalten Krieges stellen sich uns ganz andere erinnerungspolitische Herausforderungen. In verschiedenen Teilen Osteuropas lösten sich nationalsozialistische und stalinistische Gewaltherrschaft wechselseitig ab, was die Fragen nach Vergleich und Beziehungsverhältnis mit großer Dringlichkeit aufwirft.
Vielerorts treffen heute radikal unterschiedliche Geschichtsbilder aufeinander, die etwa im Baltikum ein hohes Konfliktpotenzial mit sich führen. Ähnliches gilt etwa für die Türkei. Noltes Thesen helfen uns nicht, Antworten auf diese Probleme zu finden. Einige der Fragen, die seit damals diskutiert werden, sind jedoch drängender denn je. Die historische Kontroverse muss also weitergehen. Und es liegt an uns allen, in welche Richtung sie sich entwickelt.
https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2016-08/

Stuttgarter Zeitung: Kommentar zu Auschwitz/Gedenken

27.01.2015 – 19:45
Stuttgarter Zeitung
Stuttgart (ots)
Jüngste Umfrageergebnisse und Wahrnehmungen lassen erahnen, wie schwer es wird, der Sehnsucht nach Verleugnen und Verdrängen entgegenzuwirken. Denn sie ist offenbar in Deutschland so stark wie je. 81 Prozent der Befragten sagten in einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, sie wollten die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen". 58 Prozent der Befragten bekannten, sie wollten einen regelrechten Schlussstrich unter die NS-Verbrechen ziehen. Ungeachtet einer siebzigjährigen Aufarbeitung gibt es ausweislich wissenschaftlicher Studien noch immer einen stabilen, beängstigend hohen Bodensatz von 15 bis 20 Prozent Antisemiten.
Diese Daten müssen ernüchtern, ja: erschüttern angesichts einer Welt, in der jeden Tag aufs Neue sichtbar wird, wie aktuell die geschichtlichen Lehren aus Holocaust und NS-Zeit sind. Mit dem Hitler-Regime haben wir gelernt, wie dünn in einer Gesellschaft der zivilisatorische Firnis sein kann, unter der sich äußerste Brutalität und Mordbereitschaft verbergen. Erschreckende Parallelen mit der Jetztzeit lassen sich nicht nur in den Gewaltorgien des Islamischen Staates entdecken.
Das Erinnern und Nachdenken, das Reden und Schlussfolgern darf nicht enden. Wir bleiben es den Opfern schuldig, aber auch uns selbst. Denn ohne Erinnern ist, um es erneut mit Roman Herzog zu sagen, ein Überwinden des Bösen nicht möglich.
Pressekontakt:
Stuttgarter Zeitung
Redaktionelle Koordination
Telefon: 0711 / 7205-1225
E-Mail: newsroom.stuttgarterzeitung(at)stz.zgs.de
http://www.stuttgarter-zeitung.de
https://www.presseportal.de/pm/48503/2936260


VON DER SCHLUSSSTRICH-MENTALITÄT ZUR KRITISCHEN AUSEINANDERSETZUNG MIT DER MEDIZIN IM NATIONALSOZIALISMUS – 1945 BIS HEUTE (VON REBECCA SCHWOCH)

Eine Mehrheit der deutschen Ärzt*innen profitierte vom Nationalsozialismus, sehr viele waren in die Verbrechen involviert. Nur wenige leisteten Verweigerung oder gar Widerstand. Versuche einer kritischen Aufarbeitung dieses Themas prallten jahrzehntelang gegen eine Wand des Schweigens oder der Abwehr, was sich erst ab 1980 langsam änderte. Dem Thema Medizin im Nationalsozialismus einen Platz in der Gesellschaft, aber auch speziell im medizinischen Studium zu bieten, ist nach wie vor ein wichtiges Unterfangen, um Unwissenheit und Tabuisierung durch Aufklärung und Erinnerung zu ersetzen.
Noch im Jahre 2001 hieß es, Medizinstudierende wüssten wenig über das dunkelste Kapitel der deutschen Medizingeschichte: die Verstrickungen und Verbrechen von Ärzt*innen im Nationalsozialismus. Diese Erkenntnis kristallisierte sich in einer Berliner Studie heraus, als semesterübergreifend 332 Studierende der Humanmedizin an der Humboldt-Universität nach ihrem Wissen und ihren Interessen am Thema Medizin im Nationalsozialismus befragt wurden (Stiehm 2002). Das Ergebnis war zum einen erschütternd, zum anderen aber auch wegweisend: Zwar war das Fachwissen nur mangelhaft, das Interesse an der Thematik jedoch groß. Beklagt wurde von den Studierenden, dass dieses Thema nicht nennenswert im Medizinstudium vorkomme.
Acht Jahre später wurden 216 Medizinstudierende im zehnten Studiensemester an der RWTH Aachen ähnlich befragt. Erneut sprach die enorme Diskrepanz zwischen mangelhaftem grundlegendem Wissen und vorhandenem Interesse eine deutliche Sprache. Auch dieses Mal sprachen sich die Studierenden dafür aus, dass die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus fester Bestandteil der universitären Ausbildung sein sollte (Ohnhäuser et al. 2010).
Eine solche Verankerung gibt es jedoch bis heute nur insofern, als dass die Approbationsordnung für Ärzt*innen aus dem Jahre 2002 zwar einen Querschnittsbereich Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin als benotete Pflichtlehrveranstaltung vorschreibt, jedoch keine Angaben zu Inhalten, Anforderungen und Stundenzahl macht. Damit bleibt die Entscheidung über die Aufnahme des Themas Medizin im Nationalsozialismus in den Lehrkanon den jeweiligen Fachvertreter*innen überlassen.
Dass die Beschäftigung mit den Verstrickungen und Verbrechen von Ärzt*innen im Nationalsozialismus jahrzehntelang in der medizinischen Ausbildung und der Ärzt*innenschaft insgesamt keine Rolle spielte, ist symptomatisch für die „Solidar- und Vergessenskultur“ (Ash 2015: 325) unter Mediziner*innen: Versuche einer kritischen Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus prallten generell gegen eine Wand des Schweigens oder der Abwehr (Baader 1999). Das wiederum ist umso fataler, als gerade die deutsche „arische“ Ärzteschaft weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung nationalsozialistisch organisiert war: 45 Prozent aller Ärzt*innen traten in die NSDAP ein, 7,3 Prozent in die SS, 31 Prozent in den bereits 1929 gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (Kater 2000). Die deutsche Ärzt*innenschaft war von einem sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Gedankengut durchsetzt. Die vielen, von Mediziner*innen organisierten, begangenen und zu verantwortenden Verbrechen bleiben das „Trauma des 20. Jahrhunderts“ (Riha 2013: 81).
DIE DEUTSCHE ÄRZTESCHAFT IM NATIONALSOZIALISMUS
1933 begann eine elitäre, antidemokratische, antisemitische, antifeministische, biologistische, rassenhygienische, völkische Politik, die viele ersehnten. Die Gleichschaltung, mit der das gesamte gesellschaftliche und politische Leben im NS-Staat vereinheitlicht und der nationalsozialistischen Ideologie unterworfen wurde, vollzogen die ärztlichen Standespolitiker für den gesamten Gesundheitsbereich rasch. Schon im ersten NS-Jahr wurden zentrale Organisationen der berufsständischen Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung gegründet. Die organisierte Ärzteschaft erlangte zügig einen zentralen Einfluss auf das gesamte Gesundheitswesen (Schwoch 2001: 92–132). Dazu gehörte der Kampf gegen politisch oppositionelle und jüdische Ärzt*innen, die eine Flut von gesetzlichen Maßnahmen traf, die von Jahr zu Jahr existenzbedrohender wurde. Repressalien und Terror reichten von Boykottmaßnahmen über Kündigungen und Verhaftungsaktionen bis zur Vertreibung aus der Gesellschaft bzw. aus dem Land. Die antijüdische Politik des NS-Staates vernichtete gezielt durch einen beispiellosen Raub die soziale Existenzgrundlage aller deutschen Jüd*innen und verursachte eine massive Verelendung. Der Kampf gegen die „verjudete Medizin“ endete 1938 im Entzug der Approbation aller jüdischen Ärzt*innen, die es damit offiziell nicht mehr gab. Um allerdings jüdische Zwangsarbeitende medizinisch versorgen zu können, wurde der „Krankenbehandler“ zur medizinischen Versorgung von jüdischen Patient*innen erfunden, um diese einigermaßen arbeitsfähig zu halten. Ab Kriegsbeginn wurde die Verfolgung der Jüd*innen extrem verschärft. Jüd*innen, denen bis dahin die Flucht ins Ausland nicht gelungen war, hatten von Monat zu Monat weniger Chancen, ein Aufnahmeland zu finden (Gruner 2000; Schwoch 2018).
Ein weiterer parallel verlaufender Strang der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik betraf den Kampf gegen „Minderwertige“, „Entartete“ und „Psychopathen“. Die Forderung, solche „Volksschädlinge“ zu sterilisieren oder gar zu töten, erwünschtes Erbgut hingegen zu fördern oder gar zu züchten, hat seine geistigen Wurzeln in der Eugenik – in Deutschland Rassenhygiene genannt – des 19. Jahrhunderts und war ein internationales Phänomen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten diese Theorien wegen der schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation im Deutschen Reich einen deutlichen Aufschwung. Nicht nur unter Ärzt*innen oder in der Naturwissenschaft, sondern auch in der Politik und überhaupt in der Bevölkerung stieß rassenhygienisches Gedankengut zunehmend auf Akzeptanz (Tanner 2007).
Daran konnten die Nationalsozialisten anknüpfen und nutzten ihren Propagandaapparat, um die Angst vor einer stetig wachsenden Zahl an „Minderwertigen“ zu schüren. Bereits im Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen, mit dem über 360.000 als „erbkrank“ klassifizierte Menschen zwangssterilisiert wurden. Zügig entstand ein flächendeckendes Netz von Einrichtungen, das die gesamte Bevölkerung nach „erbbiologischen“ Kriterien erfasste. „Erbgesundheitsgerichte“, aus Jurist*innen und Ärzt*innen bestehend, entschieden über die von Anstaltsleitern oder Amtsärzten gestellten Anträge zur Zwangssterilisation. Opfer dieser rassenhygienischen Maßnahmen waren psychisch Kranke, Menschen mit körperlichen Behinderungen, „Asoziale“ und andere als „minderwertig“ stigmatisierte Menschen. Ungefähr 5.000 Frauen und Männer starben an den Folgen, die durch Operationen oder Röntgenstrahlen in Krankenhäusern vorgenommen wurden. Viele Zwangssterilisierte wurden später im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet (Bock 2010).
Diese Krankenmordaktion wiederum richtete sich gegen arbeitsunfähige, pflegeaufwendige und „störende“ Patient*innen in psychiatrischen Einrichtungen, von denen einige zu Tötungseinrichtungen mit Gaskammern wurden. All diese Morde, die zwar im Verborgenen ablaufen sollten, fielen in der Öffentlichkeit aber doch auf und führten zum Stopp der „Aktion T4“. Aber das Morden ging in Gestalt anderer Aktionen weiter. Am Ende hat das Töten durch Vergasung, Totspritzen, Vernachlässigung und verhungern lassen weit über 200.000 „lebensunwerten“ Menschen das Leben gekostet. Darunter waren auch mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche, die in „Kinderfachabteilungen“ getötet wurden. Dieses Tötungsprogramm sollte von Anfang an auch für wissenschaftliche Untersuchungen in der Hirnforschung, Pathologie, Psychiatrie oder Genetik nutzbar gemacht werden (Fuchs et al. 2007; Klee 2010; Roelcke 2006).
Zu den medizinischen Verbrechen zählen ebenso die vielfach tödlich endenden und erzwungenen Menschenversuche in den Konzentrationslagern. Auch hier wurde im Namen der Wissenschaft die Möglichkeit eines grausamen Todes willentlich in Kauf genommen oder der Tod von Testpersonen wurde von vornherein einkalkuliert: Zwillingsexperimente, Unterdruck- und Unterkühlungsversuche, Fleckfieber-Impfstoff-Versuche, Tbc-Versuche und viele mehr. Konzentrationslager dienten als Experimentierfelder für Mediziner*innen, die genetische oder militärchirurgische Forschung betrieben, physiologische Experimente im Kontext der Luftfahrtmedizin durchführten, deren Ziel die Prävention oder Therapie von Seuchen oder die Herstellung von biologischen Kampfstoffen war. Tatsächlich stand die genuin wissenschaftliche Motivation über dem Respekt für die jeweiligen Menschen (Baumann 2010; Roelcke 2006). Es handelte sich nicht um vereinzelte Experimente oder einige Entgleisungen, sondern um eine große Anzahl menschenverachtender Experimente, die maximalen Fortschritt in der medizinischen Forschung versprachen. Wehrlose Menschen waren in diesem Rahmen nichts anderes als Forschungsmaterial (Baumann 2010: 21). Die exponiertesten Täter*innen (22 Männer und eine Frau) dieser humanexperimentellen Verbrechen im Nationalsozialismus standen 1946/1947 im Nürnberger Ärzteprozess vor Gericht.
ERSTE VERSUCHE EINER AUSEINANDERSETZUNG MIT DER MEDIZIN IM NATIONALSOZIALISMUS
Von den 23 in Nürnberg wegen schwerer Verstöße gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen Angeklagten, wurden sieben zum Tode und neun zu Haftstrafen verurteilt, sieben wurden freigesprochen. Dieser Prozess sollte mit führenden Vertreter*innen – 19 Ärzten, einer Ärztin, einem Juristen und zwei Verwaltungsspezialisten – abrechnen. Aber auf der Anklagebank saß symbolisch auch die „in großen Teilen willfährige deutsche Medizin“ (Eckart 2017: A1525), zumal „diese kleine Schar von Menschen niemals diese Unsumme von Leid“ (Mitscherlich/Mielke 1947: 12) hätte verwirklichen können. Und dennoch: Kaum einer der in Nürnberg lebenslang Verurteilten starb in Haft, es gab vorzeitige Entlassungen, beschämende Rehabilitationsversuche, Helfer und Helfershelfer blieben weitgehend unbehelligt (Forsbach 2015; Peter 2015). Die nie zuvor da gewesene „massive und vielfältige ärztliche Gewalttätigkeit“ (Bastian 2001: 9), die nicht wiedergutzumachenden Menschenrechtsverletzungen meinten fast alle Beschuldigten mit einem Befehlsnotstand erklären zu können.
Die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern hatte eine Beobachtergruppe für den Nürnberger Ärzteprozess zusammengestellt: den Heidelberger Neurologen und Psychosomatiker Alexander Mitscherlich und den Medizinstudenten Fred Mielke. Dieser Auftrag wurde von allen medizinischen Fakultäten aller Besatzungszonen unterstützt, wenngleich dies auch an die Hoffnung geknüpft war, nicht die gesamte deutsche Ärzteschaft schuldig zu sprechen. Noch während des Prozesses publizierten Mitscherlich und Mielke die erste Dokumentation Das Diktat der Menschenverachtung; anderthalb Jahre später folgte die erweiterte Dokumentation Wissenschaft ohne Menschlichkeit, 1960 die Taschenbuchausgabe Medizin ohne Menschlichkeit. Die Reaktion auf diese Publikationen war nicht Trauer um die Opfer, sondern Ignoranz oder Empörung über die vermeintliche Nestbeschmutzung; herausragende Kolleg*innen galten als diffamiert. Lediglich die von Mitscherlich erwähnten 350 Ärzte, die Medizinverbrechen begangen hatten, wurden als schuldige Kolleg*innen akzeptiert. Mitscherlich ergänzte allerdings: Das treffe nicht den Kern des Problems! Denn Bewältigung der Schuld könne nichts anderes heißen, als der Wahrheit ins Auge zu sehen, und sei es nur das vermeintlich harmloseste Mitlaufen (Mitscherlich/Mielke 1978: 8, 13). Gegen die erste Dokumentation opponierten einige namentlich erwähnte Täter auf gerichtlichem Wege und erreichten tatsächlich einstweilige Verfügungen bzw. Vergleiche. Daraufhin wurde angeordnet, beanstandete Textstellen zu kommentieren, zu verändern oder zu löschen. Die zweite Dokumentation blieb vollkommen ohne Wirkung – „als sei das Buch nie erschienen“ (Mitscherlich/Mielke 1978: 8, 14–15). Weiteren Dokumentationen erging es ähnlich, etwa Die Tötung Geisteskranker in Deutschland von Alice von Platen-Hallermund oder die Selektion in der Heilanstalt von Gerhard Schmidt. Gründe dafür sind im historischen Kontext der Nachkriegszeit zu sehen, in dem nur eine deutsche Minderheit Betroffenheit und Scham über die NS-Verbrechen empfand, die überwiegende Mehrheit die Verbrechen jedoch kollektiv beschweigen oder abwehren wollte (Ebbinghaus/Dörner 2002; Peter 2015).
Scham, Mechanismen der Abwehr, öffentliche Sprachlosigkeit, fehlende Trauer für die Opfer und verdrängte Inhalte verhinderten jahrzehntelang eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Unter Mediziner*innen wurde dieses kollektive Verhalten von einem geradezu undurchdringbaren Standesbewusstsein begünstigt.
KONTINUITÄTEN
Die ersten großen Prozesse vor alliierten Gerichten wurden gegen die NS-Führung geführt, was entlastend auf andere Mittäter*innen aus Verwaltung, Wehrmacht, Wirtschaft, Wissenschaft oder eben das Gesundheitswesen wirkte. Ab 1949 galten hochrangige Täter oft nur noch als „Gehilfen“. Wer bis dahin nicht als „sadistischer Intensivtäter“ eingestuft worden war, hatte im Prinzip nicht mehr viel zu befürchten (Jasch/Kaiser 2017).
Die politischen und rechtlichen Systeme der Bundesrepublik Deutschland und der DDR entwickelten sich weit auseinander. Dennoch verabschiedeten der Deutsche Bundestag und die DDR-Volkskammer fast zeitgleich Amnestiegesetze, die sich aber in quantitativer und qualitativer Hinsicht erheblich voneinander unterschieden. Obwohl der „staatsoffizielle Antifaschismus“ der DDR Abgrenzungsinstrument nach Westen und zugleich Herrschaftsmittel nach innen war (Münkler 2009), blieben Rehabilitierung und Wiedereingliederung im Wesentlichen auf nominelle NSDAP-Mitglieder beschränkt. In der Bundesrepublik hingegen konnten Mitläufer*innen und schwer Belastete in fast alle Positionen des öffentlichen Dienstes und der freien Wirtschaft einrücken (Weinke 2002: 334–336).
Mediziner*innen wurden in der Nachkriegszeit im Osten wie im Westen dringend gebraucht: für die medizinische Versorgung der Bevölkerung, die Gesundheitsverwaltung oder die universitäre Ausbildung. Aus dieser Notlage heraus konnten die mehr und die weniger verstrickten Mediziner*innen auch nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ weiterhin tätig sein. Für diese personellen Kontinuitäten verhalfen aber auch Seilschaften oder Netzwerke, das kollegiale Zusammenhalten der Ärzteschaft und nicht zuletzt auch die Gerichte, die allzu oft die Beweislage als nicht genügend beurteilten. An dieser Stelle seien vier Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen vorgestellt:
Der deutschnational und deutschvölkisch geprägte Karl Haedenkamp (1889–1955), von 1924 an ärztlicher Standespolitiker in leitender Funktion, war ab 1933 maßgeblich mit der Gleichschaltung im Gesundheitswesen sowie der Verfolgung politisch oppositioneller und jüdischer Kolleg*innen befasst. Er vermochte es nach 1945, sich als Widerstandskämpfer darzustellen: Dazu verhalfen einige „Persilscheine“ sowie die eigene Angabe, all seine Unterlagen seien im Krieg verloren gegangen. Er wurde rasch entnazifiziert. Dieser „Schreibtischtäter“ ist ein Beispiel für diejenigen Täter*innen, mit denen sich die Gerichte schwerer taten als beispielsweise mit dem Personal der Vernichtungslager. Haedenkamp hatte im ersten Nachkriegsjahrzehnt maßgeblichen Einfluss auf den Wiederaufbau der ärztlichen Berufsorganisation in Westdeutschland. Hohe Anerkennung zollte die Ärzteschaft ihm u. a. mit der Kölner Haedenkamp-Straße, in der sich die Bundesärztekammer sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung befanden. Den jahrelangen Kampf gegen eine Umbenennung mussten die ärztlichen Standespolitiker 1986 zähneknirschend aufgeben: Seitdem gibt es in Köln-Lindenthal die Herbert-Lewin-Straße, benannt nach einem bekannten Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde, Gynäkologen und Holocaustüberlebenden (Schwoch 2016).
Personelle Kontinuitäten gab es auch bei Mediziner*innen, die an Menschenversuchen beteiligt waren: Der Internist und Professor an der Reichsuniversität Straßburg, Otto Bickenbach (1901–1971), hatte über die Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen geforscht. Im KZ Natzweiler-Struthof bot sich die Gelegenheit, eine von ihm entwickelte Substanz gegen das Giftgas Phosgen an Häftlingen auszuprobieren, an Sint*ezza, Rom*nja und Jüd*innen. Ihren Tod kalkulierte er in einigen seiner Versuche vorsätzlich ein. Mindestens 50 Menschen starben bei diesen Experimenten. Bickenbach stand zwar mehrfach vor Gericht und wurde auch zu langjährigen Strafen und zur Zwangsarbeit verurteilt, aber schon 1955 folgte ein Straferlass: Bickenbach war fortan ein freier Mann und eröffnete eine internistische Praxis im nordrhein-westfälischen Siegburg. Zu seiner Rehabilitierung beantragte Bickenbach ein berufsgerichtliches Verfahren: 1966 befand das Berufsgericht für Heilberufe in Köln, Bickenbach habe seine Berufspflichten nicht verletzt (Baumann 2010: 85–86; Schmaltz 2017: 521–562).
Wohlwollend urteilte die Justiz auch bei Ärzt*innen, die in die Krankenmorde verstrickt waren. Auf dem Jenaer Lehrstuhl für Kinderheilkunde wirkte seit 1917 Jussuf Ibrahim (1877–1953), der zugleich das dortige Kinderkrankenhaus leitete. Ibrahim überwies Kinder seiner Klinik in die „Kinderfachabteilung“ des Landeskrankenhauses Stadtroda und empfahl ausdrücklich „Euthanasie“. Für die auffällig hohe Letalität auf dieser Station – schätzungsweise 133 Kinder und Jugendliche starben dort – zwischen 1941 und 1945 war der Leiter Gerhard Kloos (1906–1988) verantwortlich. Im Jahre 1961, Kloos war bereits Direktor des Landeskrankenhauses Göttingen und Sachverständiger in Wiedergutmachungsverfahren, betonte er bei einer Vernehmung, dass es zu vorsätzlichen Tötungen in seiner Einrichtung nie gekommen sei. Das Verfahren wurde 1963 eingestellt. Kloos war sich seiner Sache sehr sicher, sodass er 1984 an Ernst Klee schrieb, in Stadtroda habe es nie eine „Kinderfachabteilung“ gegeben (Klee 2010: 505; Zimmermann 2000: 160ff.). Jussuf Ibrahim hingegen war ein Verfahren gänzlich erspart geblieben: Als hochdekorierter Arzt in der DDR (Ehrenbürger der Stadt Jena, Verdienter Arzt des Volkes, Nationalpreisträger der DDR I. Klasse für Wissenschaft und Technik) wurden die Universitätskinderklinik, Kindergärten und Straßen nach ihm benannt. Er genoss zeit seines Lebens höchste Anerkennung und wurde vor allem in Thüringen zum Inbegriff des humanistisch handelnden Arztes. Als Susanne Zimmermann den Zusammenhang zwischen Ibrahim und den NS-Kindermorden entdeckte, entzündete sich eine emotionale Debatte. Nach monatelangen, nach wie vor noch nicht völlig beendeten kontroversen Diskussionen wurde beschlossen, die Universitätskinderklinik, aber auch die Kindergärten sowie Straßen dürften den Namen Ibrahims nicht mehr tragen (Zimmermann 2000, 2006).
SCHLUSSSTRICH-MENTALITÄT
Über Jahrzehnte gab es im Nachkriegs-Deutschland einen erheblichen Widerstand dagegen, die deutschen Verbrechen zu thematisieren, Täter*innen zu benennen, die Mitverantwortung großer Teile der deutschen Bevölkerung anzuerkennen. So leicht es einst gewesen sei, so Aleida Assmann, den Angriffsgeist zu mobilisieren und das Bewusstsein für den Krieg zu schärfen, so schwierig sei es nach Kriegsende gewesen, ein Bewusstsein von „wir sind besiegt!“ zu verankern. Und schlimmer noch: Die so effektiv betriebene Mord-Maschinerie habe nicht nur Lebenszusammenhänge, sondern auch die menschlichen Formen des Trauerns, Erinnerns, Gedenkens tief greifend zerstört (Assmann 1999: 103–104). So wundert es nicht, dass sich diese Schlussstrich-Mentalität jahrzehntelang hielt, in beinahe allen politischen Parteien, in beinahe allen Gesellschaftsbereichen. Das gilt auch für die deutsche Ärzteschaft, in der es noch heute den „Reflex der Kollektivschuldabwehr“ gibt, selbst wenn man schlichte Fakten wie die NSDAP-Mitgliedschaft benennt (Forsbach 2015: 98). Die Mär, dass sich nur eine Minderheit der deutschen Ärzt*innen dem Nationalsozialismus zugewandt gehabt habe bzw. in nationalsozialistische Verbrechen verstrickt gewesen sei, hielt sich hartnäckig.
Innerhalb der ärztlichen Standesorganisationen wurde die Geschichte der NS-Medizin bis in die 1980er Jahre hinein – teilweise deutlich länger – ausgeblendet, abgewehrt oder banalisiert. Möglicherweise haben die nur wenigen gerichtlichen Verurteilungen und das ausgeprägte Standesbewusstsein der ärztlichen Kolleg*innen zu der Illusion geführt, dass nur ein geringer Teil der deutschen Ärzt*innen an den Verbrechen beteiligt gewesen sein konnte. Viele wollten ihre Nachkriegskarriere oder ungestörte ärztliche Tätigkeit auch nach dieser Katastrophe nicht verwirkt wissen. Die vielen personellen Kontinuitäten und offiziellen Reaktionen ärztlicher Standesvertreter*innen stützten diese Schlussstrich-Mentalität. Die Selbstverständlichkeit, dass im Vorstand der Bundesärztekammer ehemalige SA- und SS-Funktionäre agierten, sowie die Tatsache, dass der Deutsche Ärztetag des Jahres 1980 von Wilhelm Heim (1906–1997) – bis 1945 SA-Sanitäts-Standartenführer und seit 1983 Träger der Paracelsus-Medaille – eröffnet wurde, zeigt: Von einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Standesgeschichte konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein.
AUF DEM RICHTIGEN WEG: VOM GESUNDHEITSTAG 1980 BIS HEUTE
Parallel zum Deutschen Ärztetag 1980 fand eine Alternativveranstaltung statt: der Gesundheitstag. Der war aus dem Bedürfnis entstanden, eine Auseinandersetzung mit den ärztlichen Standespolitikern zu suchen. Es war klar, dass dieses Unternehmen „nach wie vor ein Wagnis“ darstellte, „das gelingen kann, wenn alle Teilnehmer, die sprechenden und die hörenden, die Skeptiker und die Zuversichtlichen, ihren Teil dazu beitragen und ihre Verantwortung ernst nehmen“ (Medizinisches Informations- und Kommunikationszentrum 1980). Über 12.000 Teilnehmende bildeten einen wirksamen Kontrast zur „verkrusteten Standespolitik“ (FrAktion Gesundheit o.J.). Noch im selben Jahr gaben Gerhard Baader und Ulrich Schultz ein grundlegendes Buch heraus, in dem sich die 19 Autor*innen mit der Ideologie des Sozialdarwinismus und seiner extremsten Ausformung, dem biologisch-rassisch fundierten völkischen Gedanken nebst den tödlichen Konsequenzen, genauso beschäftigten wie mit der Verquickung von Politik und Wissenschaft, der ärztlichen Standeslehre, der Arbeits- und Leistungsmedizin oder der Familien- und Bevölkerungspolitik (Baader/Schultz 1980).
Trotz dieses einschneidenden Gesundheitstages lehnte Bundesärztekammer-Präsident Karsten Vilmar noch auf dem Ärztetag 1987 eine „Kollektivschuld“ ab; schuldig sei vielmehr ein kleiner Kreis „radikaler Ärztekader“ sowie ein Clan von Ärzten mit „verbrecherischem Willen“ gewesen (Bleker/Schmiedebach 1987). Dennoch: Die Leistungen und Anstöße der ersten, die die Schlussstrich-Mentalität in der Ärzteschaft brechen wollten, waren nun nicht mehr aufzuhalten. Die Fülle der kritischen wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich mit der Medizin im Nationalsozialismus auseinandersetzten, nahm in den 80er Jahren stark zu und ist heute nur mit Aufwand zu überblicken (Wuttke-Groneberg 1982; Jütte 2011). Die Pflege einer Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur wird mittlerweile ebenso in zahlreichen anderen Aktivitäten und Einrichtungen geleistet – beispielsweise in Geschichtswerkstätten, Museen, Fernseh- und Radiodokumentationen, Arbeitskreisen und Gedenkveranstaltungen.
All dies zeigt, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Medizin im Nationalsozialismus eine nachhaltige Notwendigkeit ist, die allerdings nichts ungeschehen machen kann und auch für eine Wiedergutmachung oder Vergangenheitsbewältigung nicht taugt. Einen eingehenden und konstruktiven Diskurs über die NS-Medizin sollten Medizinstudierende und die Gesellschaft insgesamt führen, um dabei Unwissenheit und Tabuisierung durch Aufklärung und Erinnerung zu ersetzen. Damit könnte für die Gegenwart und Zukunft ein Beitrag geleistet werden, das Bewusstsein für eine Medizin in Verantwortung zu schärfen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht.
LITERATUR
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https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd7-16/

„DIE VERBRECHEN VON ÄRZT*INNEN IM NATIONALSOZIALISMUS SPIELTEN JAHRZEHNTELANG IN DER MEDIZINISCHEN
AUSBILDUNG UND DER ÄRZT*INNENSCHAFT KEINE ROLLE.“
REBECCA SCHWOCH
Von der Schlussstrich-Mentalität zur kritischen Auseinandersetzung mit der Medizin im Nationalsozialismus – 1945 bis heute
https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WSD7/Schwoch.pdf


"Alle zehn Jahre muss die NS-Zeit neu diskutiert werden"

Das sagt Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Er wehrt sich gegen die "Schlussstrich-Tendenz" in Deutschland und Österreich.
Datum 12.03.2013
Autorin/Autor Birgit Goertz
Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien
DW: Wie sehen österreichische Historiker die Rolle Österreichs in der NS-Zeit heute?
Oliver Rathkolb: Österreichische Historker haben ihre Perspektive seit den späten 1970er Jahre nicht wirklich geändert, weil für sie immer klar war, dass es einen sehr starken Anschluss auch von innen gegeben hat, dass es ein breites Ausmaß an Kollaboration, an Mittäterschaft, gegeben hat.
Über die teils brutalen Exzesse nach dem "Anschluss" gegenüber Jüdinnen und Juden wurde auch schon viel publiziert. Was sich geändert hat, ist die öffentliche Einstellung zum "Anschluss", die Einstellung der politischen Eliten mit Ausnahme der FPÖ, die diesen Jahrestag eher still an sich vorbeigehen lassen wird.
Noch während des Krieges sahen die Alliierten in der Moskauer Deklaration von 1943 Österreich als erstes Opfer der Aggression Hitlerdeutschlands. Warum führte diese Formulierung zu einer historisch falschen Sicht der österreichischen Rolle?
Das zerstörte Wien 1945 (Foto: dpa)
Das zerstörte Wien 1945
Die Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 hatte vor allem den Sinn, Widerstand im ehemaligen Österrech zu initiieren. Deswegen wurde nicht nur das Faktum diskutiert, dass Österreich als Staat ein Opfer war, sondern es sollte bis zur endgültigen Klärung des Staates Österreichs auch der Widerstand in Rechnung gestellt werden. Doch dieser Widerstand war nicht nennenswert. Die These hat sich nicht realisiert.
Die österreichische politische Elite aber hat sehr früh die Moskauer Deklaration halbiert und Österreich nur als Opfer gesehen. Interessant ist , dass vor allem West-Alliierten sehr früh, spätestens 1947/48, auch auf diese Doktrin aufgesprungen sind. Für die österreichische Identitätskonstruktion war das Abschieben aller Belastung und Verantwortung auf die spätere Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Krücke, um ein eigenständiges Nationalbewusstsein zu entwickeln.
Letzten Endes bedurfte es einer heftigen internationalen Debatte. Sie wurde ausgelöst durch die Diskussion der Kriegsvergangenheit des UN-Generalsekretärs und späteren österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Es hat lange gedauert, diese Doktrin in der Gesellschaft und in der politischen Elite in Frage zu stellen und und den kritischen österreichischen Beitrag zum "Anschluss", die Rolle von Österreichern, sei es in der Wehrmacht, sei es in den Vernichtungslagern, aufzuzeigen.
Der Umschwung kam mit der Waldheim-Affäre
Also war die Frage nach der NS-Vergangenheit Kurt Waldheims 1986 eine Initialzündung für die Neubewertung der österreichischen Rolle?
Kurt Waldheim am 22.5.1943 in Podgorica, im heutigen Montenegro (Foto: AP/World Jewish Congress)
Kurt Waldheim (links) am 22.5.1943 in Podgorica im heutigen Montenegro
Ja, absolut. Rückblickend betrachtet war Waldheim ein kleiner Fisch. Er war zwar ein sehr gut informierter Wehrmachtsoffizier auf dem Balkan, in Griechenland, was die Kriegsgreuel an Partisanen und an der jüdischen Bevölkerung Griechenlands anging. Aber es war sein typisch österreichischer Nichtumgang mit der eigenen Geschichte im Zweiten Weltkrieg, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Wie hat sich der Umschwung in der Wahrnehmung der österreichischen Rolle in der Gesellschaft vollzogen?
Wenn man die Geschichte anschaut, dann geschah das in Wellen. Die Jahre 1945/46 waren geprägt von Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozessen. In den 50er/60er Jahren gab es eine umfassende Amnestierung in Österreich: Selbst Kriegsverbrecher wurden in Geschworenengerichten freigesprochen. In dieser Phase wurde die Geschichte völlig zugeschüttet. Es musste eine neue Generation kommen, die auch den internationalen Trend der Neubewertung der Shoa in den 1980er Jahren aufgenommen hat. Es dauerte bis weit in die 1990er Jahre, bis es zu einem Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung kam. Das kann man beispielsweise deutlich sehen in den heftigen Debatten zur Zwangsarbeiter-Entschädigung, die ab dem Jahr 2000 ausgerechnet durch eine Mitte-Rechts-Regierung realisiert wurde.
Wenn man nun den Prozess der Neubewertung des Holocaust in Deutschland mit der in Österreich vergleicht, dann scheint es, als habe dieser zehn Jahre später eingesetzt.
Die Wiener Philharmoniker befassen sich auch mit der NS-Zeit (Foto: Wiener Philharmoniker)
Die Wiener Philharmoniker befassen sich auch mit der NS-Zeit
Österreich hat überhaupt die Tendenz, gesellschaftliche Prozesse verspätet zu rezipieren, insofern sind diese zehn Jahre ein guter Maßstab. Wobei man sagen muss, dass Bundeskanzler Adenauer vor allem mit dem Entschädigungsvertrag mit Israel 1957 in Deutschland eine ganz andere staatspolitsche Ebene eingeleitet hat. Die Österreicher agierten in den 1950er Jahren völlig anders. Sie schoben alle Verantwortung auf die Bundesrepublik Deutschland ab. Das war damals der Ausgangspunkt einer unterschiedlichen Entwicklung.
Gegen die "Schlussstrich-Tendenz"
In der Gegenwart gibt es in beiden Gesellschaften ein Poblem: Umfragen zeigen, dass es sowohl in Deutschland als auch in Österreich eine kritische Sicht auf den Natioanalsozialismus und den Antisemitismus gibt. Aber es existiert in beiden Staaten eine sehr starke Schlusstrich-Tendenz unter der jüngeren Generation. Die Geschichte gerade des Nationalsozialismus und des Holocaust muss eigentlich alle zehn Jahre neu diskutiert und für die Folgegeneration aufgearbeitet werden.
Wäre es nicht nun an der Zeit, sich gemeinsam - Deutsche und Österreicher - an das Thema NS-Zeit heranzutrauen, ohne Vorhaltungen und Aufrechnen der Verantwortung des jeweils anderen?
Ich würde sagen, man müsste einen Schritt weitergehen. Ich glaube, das große wirkliche Thema des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs ist: Wie mache ich daraus einen europäischen Erinnerungsort? Das wird zwar politisch immer wieder versucht, aber wenn man sich die Entwicklung in den baltischen Staaten, in Südosteruoa anschaut, so findet dort die kritische Auseinandersetzung mit der Shoa nicht wirklich statt. Das Thema wird lediglich in Museen und bestimmte Zirkel "weggeräumt".
Stolpersteine für im KZ Mauthausen ermodete Opfer des Holocaust
Stolpersteine für im KZ Mauthausen ermordeten Opfer des Holocaust
Österreich und Deutschland sollten einen stärkeren Anlauf nehmen, dieses Thema auf eine europäische Ebene zu heben. Letzten Endes ist der Nationalsozialismus der Ausgangspunkt der Ermordung der europäischen Juden. Ohne die vielfache Kollaboration in allen europäischen Staaten von Frankreich bis weit hinein in die Ukraine wäre dieser Massenmord nicht in der Form gelungen, wie er gelungen ist. Das einmal kritisch aufzuarbeiten sollte das Ziel einer neuen Auseinandersetzung mit der Shoa und dem zweiten Weltkrieg sein. Nicht zuletzt deshalb, weil sich unsere Gesellschaften durch Migration völlig zu verändern beginnen. Daher müssen wir einen neuen Ansatz finden. Davon sind wir noch weit entfernt.
Welche Bedeutung hat der der diesjährige 75. Jahrestag des "Anschlusses"?
Dieser Tag ist eine gute Gelegenheit, um klar die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Rolle Österreichs zu thematisieren umd das Wiederaufkeimen der Opferdoktrin zu verhindern. Es schaut auf ersten Blick wie ein üblicher Staatsakt aus. Doch es gibt eine Reihe weiterer Veranstaltungen rund um den Jahrestag. Die Wiener Philharmoniker haben mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ORF einen ersten kritischen Film über die Philharmoniker während der NS-Zeit gezeigt. Es gibt viele solcher Initiativen, die zeigen: Das Thema findet nicht nur auf der staatlichen, sondern auch auf der zivilgesellschaftlichen Ebene statt.
https://www.dw.com/


HOLOCAUSTGEDENKTAG
Kommentar: Keine Kompromisse

Die Verantwortung für die Schrecken der Nazi-Herrschaft müssen ausnahmslos alle tragen, die heute in Deutschland leben, meint DW-Chefredakteurin Ines Pohl. Weil sie nämlich nichts mit individueller Schuld zu tun hat.
Datum 27.01.2019
Autorin/Autor Ines Pohl
Hier am Tor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau entschied sich, wer direkt ins Gas und wer ins Arbeitslager ging
Es hat lange gedauert, bis Deutschland endlich anerkannt hat, dass es ein Einwanderungsland ist. Viele verweigern sich noch immer der Erkenntnis, dass es nicht allein eine kulturelle Bereicherung ist, wenn Menschen aus der ganzen Welt in Deutschland leben und arbeiten möchten. Angesichts der demografischen Entwicklung werden die Bürger von Europas größter Wirtschaftsmacht ihren Lebensstandard nämlich nicht halten können ohne die Arbeitskraft und Kompetenz von Menschen aus anderen Ländern.
Nicht im Schrecken der Vergangenheit verharren
Heute, 74 Jahre nachdem das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, ist ein guter Tag darüber nachzudenken, was es eigentlich heißt, nach Deutschland einzuwandern, hier zu leben und vielleicht gar die deutsche Staatsbürgerschaft anzustreben. Es ist ein guter Tag, um sich zu vergegenwärtigen, warum zu dem Bekenntnis, ein Einwanderungsland sein zu wollen, ganz klare und unverrückbare Regeln gehören. Und dass es ein deutsches Selbstverständnis gibt, das nie und nimmer zur Disposition stehen darf, bei dem es keine Kompromisse geben kann.
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DW-Chefredakteurin Ines Pohl
Deutschland trägt die Verantwortung für die Ermordung von mindesten sechs Millionen Juden. Es trägt die Verantwortung für den Tod und das Leid von vielen weiteren Millionen Menschen auf dem europäischen Kontinent und auch darüber hinaus. Diese Geschichte Deutschlands ist nie vorbei, kann nie vergessen sein, muss weiterleben durch Gedenktage wie dem heutigen. Der Blick zurück darf aber nicht im Schrecken der Vergangenheit verharren. Sondern muss nach vorne gerichtet immer und immer wieder fragen: Was müssen wir jetzt - heute - tun, um dieser besonderen Verantwortung gerecht zu werden?
Gerade weil die letzten Überlebenden, aber auch die letzten Täter sterben, müssen wir andere Wege finden, den jungen Menschen, den künftigen Wählerinnen und Wählern, den politischen Entscheidern der Zukunft diese Verantwortung nahe zu bringen. Je länger die Nazi-Herrschaft vorbei ist, desto schwieriger ist es, ihre Bedeutung für die Gegenwart lebendig zu halten. Das liegt in der Natur der Sache.
Über alle Parteigrenzen hinweg
Es ist deshalb wichtig und richtig, in Schulen zu informieren, Klassenfahrten in eines der Konzentrations- oder Vernichtungslager zu organisieren, aber auch die Schlachtfelder von Verdun zu besuchen. Es ist wichtig und gut, dass die demokratischen, politischen Kräfte sich über alle Parteigrenzen hinweg zusammen tun, um Judenhass und Antisemitismus konsequent zu bekämpfen.
Genau so wichtig ist es aber auch, jenen Menschen, deren Vorfahren in der dunkelsten Phase deutscher Geschichte noch nicht hier lebten oder die neu einwandern, klar zu machen, dass alle, die heute in Deutschland leben, bereit sein müssen, diese Verantwortung zu übernehmen. Weil sie nichts mit individueller Schuld zu tun hat, sondern mit dem Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Auch diese Klarheit gehört zum heutigen Tag.
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Schuld oder Verantwortung
Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit?

ab 14 Jahren
45 – 90 min
Bildungsmaterial, Sekundärer Antisemitismus
Die gemeinsame Reflexion über die Frage nach historischer Schuld und Verantwortung führt die Teilnehmenden zum vereinten Nachdenken über mögliche Argumente gegen einen Schlussstrich. Die Methode eignet sich für Lerngruppen mit ersten Vorkenntnissen, die sich der historischen Dimension der NS-Verbrechen bewusst sind.
Allgemeine Informationen
Konzeptioneller Zugang
Die Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus bereitet in der Regel kein Vergnügen. Sie kann seelisch erschüttern, Gefühle persönlicher Scham und kollektiver Schuld evozieren, unbequeme Fragen nach eigenem Verhalten aufwerfen. Strategien der Vermeidung oder Abwehr können mit einer Täter-Opfer-Umkehr einhergehen und so antisemitisch gewendet werden. Dies zu erkennen und zu begreifen kann zu einem besseren Verständnis und bewussterem Umgang mit der eigenen Gefühlswelt beitragen, um Abwehraggressionen entgegenzuwirken.
Lernziele
Die TN sind in der Lage, zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung für die NS-Verbrechen zu differenzieren. Sie haben ein entwickeltes Problembewusstsein gegenüber der Forderung nach einem Schlussstrich und kennen Argumente dagegen. Sie wissen, dass Erinnerungsabwehr und -verweigerung eine Aggression gegen die Opfer selbst darstellen kann.
MATERIAL
Material-Download, Flipchartpapier, Filzmarker, Schreibstifte, Beamer/Smartboard, Lautsprecher, Internetverbindung
Zeit
90 Min (25 Min/65 Min)
Schritt 1: Stumme Diskussion
Übung (10 Min)
Zwei vorbereitete Plakate werden an unterschiedlichen Stellen im Raum aufgehängt oder auf freistehenden Tischen ausgelegt.
Je ein Plakat enthält eine der folgenden Fragen:
„Was bedeutet Schuld?“
„Was bedeutet Verantwortung?“
Die Plakate sollen gut zugänglich sein und einen schreibfesten Untergrund haben. An beiden Stationen sind mehrere Filzmarker zum Schreiben platziert.
Die einzelnen TN besuchen jetzt – sich frei im Raum bewegend – nacheinander beide Plakat-Stationen und versuchen, die dort formulierten Fragen zu beantworten. Ihre Antworten und Kommentare schreiben sie direkt auf das jeweilige Plakat, ohne dabei zu sprechen.
Sie können auch schreibend aufeinander Bezug nehmen, indem sie die verschiedenen Beiträge gegenseitig ergänzen und kommentieren. Die TN können selbstständig entscheiden, in welcher Reihenfolge und wie oft sie die Stationen aufsuchen.
Auswertung (15 Min)
Alle TN kommen wieder zusammen und sehen sich die Plakate noch einmal gemeinsam an. Die Teamenden stellen die beschriebenen Plakate nacheinander vor und stellen klärende Nachfragen, wenn gewisse Kommentare nicht eindeutig sind.
Im Gespräch mit den TN verdeutlichen die Teamenden, dass „Schuld“ aus einem konkreten persönlichen Fehlverhalten resultiert, also aus einem Verstoß gegen ethisch-moralische oder gesetzliche Normen. „Verantwortung“ hingegen verweist auf eine allgemeinere Verpflichtung oder ein Pflichtgefühl gegenüber anderen Personen oder Personengruppen – und kann als gesellschaftlich normiertes oder selbst gewähltes Ideal das eigene Handeln bestimmen.
Die Teamenden erklären, dass beide Begriffe auch in der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen von zentraler Bedeutung sind. Zugleich arbeiten sie heraus, dass Fragen nach Schuld und Verantwortung sowohl das Individuum als auch ein gesellschaftliches Kollektiv (z.B. Deutschland oder die Menschheit im Allgemeinen) betreffen können.
In einer moderierten Abschlussdiskussion erörtern die TN schließlich, ob die Schuldfrage für ihre eigene Generation und ihre persönliche Sicht auf die NS-Vergangenheit (noch) relevant ist. Gemeinsam überlegen sie, was es bedeuten kann, für ein begangenes Unrecht historische Verantwortung zu übernehmen.
Mögliche Antworten können sein: die Anerkennung und Entschädigung der Opfer und ihrer Nachkommen, öffentliches Erinnern und Gedenken, die Verteidigung von Schwächeren und der Schutz diskriminierter Minderheiten, das Einmischen bei Ungerechtigkeit oder Mobbing, Engagement gegen Nazis etc.
Fragen
Ist die Frage nach der Schuld an den NS-Verbrechen für uns persönlich heute überhaupt noch wichtig?
Was ist darunter zu verstehen, wenn von einer gemeinsamen „historischen Verantwortung“ gesprochen wird?
Fallen euch Beispiele dafür ein, was man selbst konkret tun kann, wenn man eine historische Verantwortung anerkennt?
Hinweis: Die Methode „Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit?“ eignet sich für Zielgruppen, die bereits über Vorkenntnisse zu Nationalsozialismus und Holocaust verfügen und sich der historischen Dimensionen der NS-Verbrechen einigermaßen bewusst sind.
Für die Stumme Diskussion kann es hilfreich sein, den einführenden Arbeitsauftrag mit konkreten Beispielen zu erläutern, um eine zielführende Bearbeitung der Fragen zu gewährleisten. Beachten Sie dabei, dass die Fragen mit Absicht allgemein formuliert sind, also vorerst (noch) ohne Bezug zum Umgang mit der NS-Vergangenheit bleiben. Greifen Sie während der stummen Diskussionsphase nur dann unterstützend ein, wenn bei der Beantwortung der Fragen grundsätzliche Missverständnisse zutage treten.
Für die Abschlussdiskussion um die Fragen nach historischer Schuld und Verantwortung sowie auch bei der Thematisierung der Schlussstrichforderung gilt: Vermeiden Sie den Eindruck, es gehe hier um eine ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Haltung zum Thema, aber lassen Sie eindeutig problematische Äußerungen nicht unwidersprochen stehen. Verdeutlichen Sie die ethisch-moralische Tragweite der Fragestellung, aber halten Sie sich mit dezidiert moralisierenden Wertungen zurück.
Schritt 2: Video-Kommentar und Gruppenarbeit
Film-Clip und Auswertung (15 Min)
Die TN sehen gemeinsam einen Kommentar von Anja Reschke (NDR) zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in den ARD-Tagesthemen vom 27. Januar 2015 (Dauer 1:53) (Siehe Material). Die TV-Journalistin setzt sich darin mit der in der deutschen Bevölkerung weitverbreiteten Forderung auseinander, einen Schlussstrich unter die Geschichte der Judenverfolgung zu ziehen. Ihr Plädoyer für das Erinnern verbindet sie auch mit einer deutlichen Kritik an den fremdenfeindlichen Positionen der Pegida-Demonstrationen in Dresden.
Nach der Sichtung des Film-Clips werden zunächst Verständnisfragen geklärt. Bei Bedarf können die TN den Beitrag noch ein zweites Mal anschauen.
Anschließend resümieren und diskutieren die TN im moderierten Gespräch die im Kommentar vorgetragene Kritik. Dabei sollten die Teamenden darauf achten, dass die TN die kritisierte Schlussstrichforderung auch als eine Abwehr- und Verweigerungshaltung identifizieren und entsprechend problematisieren können, selbst wenn sie nicht alle der vorgebrachten Argumente teilen sollten.
Fragen
Was ist unter der Forderung nach einem Schlussstrich zu verstehen?
Ist euch so eine Forderung schon mal begegnet, und wo?
Welche Argumente gegen einen Schlussstrich bringt die Journalistin vor?
Findet ihr diese Argumentation nachvollziehbar?
Gruppenarbeit (40 Min)
Nach Diskussion und Auswertung des journalistischen Kommentars überlegen die TN in Kleingruppen (je zwei bis vier Personen) weitere Argumente gegen einen Schlussstrich. Jede dieser Gruppen erhält ein Arbeitsblatt mit einer Situationsbeschreibung und einem Arbeitsauftrag (siehe Material). Es stehen drei Situationen zur Auswahl, die zu gleichen Teilen unter den Kleingruppen verteilt werden, sodass mehrere Gruppen jeweils den gleichen Text bearbeiten. Die Aufgabe der TN besteht darin, eine fiktive Person bei der Suche nach Argumenten zu unterstützen.
Die Arbeitsgruppen haben jetzt etwa 20 Minuten Zeit, die Texte zu lesen und gemeinsam Argumente zu überlegen, die sie auf dem Arbeitsblatt notieren.
Das Zusammentragen der Ergebnisse erfolgt in einem moderierten Gespräch, in dem die drei Fallbeispiele nacheinander besprochen werden. Die Teamenden bitten zunächst eine beliebige Gruppe, ihren Text vorzulesen und ihre gesammelten Argumente zu präsentieren. Danach sind alle Gruppen, die dasselbe Beispiel bearbeitet haben, aufgefordert, weitere Argumente zu ergänzen. Im Anschluss daran werden das zweite und schließlich das dritte Beispiel präsentiert.
Die Teamenden schreiben die Antworten für alle drei Fallbeispiele am Flipchart oder an der Tafel mit, sodass eine gemeinsame Liste von Argumenten entsteht. Da eine mehrfache Nennung einzelner Argumente zu erwarten ist, sollte die Sammlung der Antworten eher zügig gestaltet werden.
Kurzvortrag (10 Min)
Abschließend halten die Teamenden einen kurzen zusammenführenden Vortrag, den sie in Form einer digitalen Präsentation an (Lein-) Wand oder Smartboard visualisieren (siehe Material).
Der Vortrag greift noch einmal die Frage nach (persönlicher) Schuld und (gesellschaftlicher) Verantwortung auf und problematisiert erneut die Schlussstrichforderung. Darüber hinaus führt er mit der Täter-Opfer-Umkehr („Die Juden sind selbst schuld“) kurz und knapp in ein zentrales Motiv des sekundären Antisemitismus ein, in dem die Abwehrreaktion gegenüber einer belasteten Vergangenheit mit Aggression gegen die Opfer einhergeht.
Quelle
KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Berlin 2017. PDF >>>
https://www.anders-denken.info/


Kommentar über KZ-Prozesse
Kein Schlussstrich bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen

Im Fernsehstudio wie im Gerichtssaal zeigt sich, dass man den Massenmord an Europas Juden nicht „bewältigen“ kann im Sinne von erledigen und abhaken. Das verhöhnt die Opfer, meint Joerg Helge Wagner.
Kein Schlussstrich bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen
Von Joerg Helge Wagner
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Kein Schlussstrich bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen
Im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig kamen bis Kriegsende rund 65.000 Menschen ums Leben. Heute ist dieser Ort Museum und Gedenkstätte.
Piotr Wittman/dpa
Was hat die „Hart aber fair“-Talkshow vom Montag mit einem Mordprozess zu tun, der an diesem Donnerstag vor dem Hamburger Landgericht beginnt? Jeweils werden Verbrechen an Juden verhandelt, Antisemitismus in seiner brutalsten Form, und der Umgang damit. Und im Fernsehstudio wie im Gerichtssaal zeigt sich, dass man Vergangenheit eben nicht „bewältigen“ kann im Sinne von erledigen, abhaken. Sie wirkt weiter bis in die Gegenwart, sie entlässt die Nachgeborenen nicht aus der Verantwortung.
Muss man einen 93-jährigen Greis, der zur Tatzeit ein Teenager und zudem nur ein kleines Rädchen im monströsen Vernichtungsapparat war, noch vor Gericht stellen? Ja, man muss, sofern man das Gesetz respektiert: Mord verjährt eben nicht, auch nicht die Beihilfe dazu. Mörder dürfen sich in einem Rechtsstaat nie sicher fühlen. Andererseits muss auch jemand, dem Mord vorgeworfen wird, sicher sein, dass er nicht verurteilt wird, wenn man ihm die Tat nicht nachweisen kann. Das sind die Leitplanken der Justiz, und sie sind nicht verhandelbar. Ob es um Massenmord im KZ Stutthof geht oder um Morde und Mordversuch in Halle, spielt hier keine Rolle.
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NS-Verbrechen
Das Leben eines KZ-Wachmanns
Er kam mit 17 Jahren als Wachmann ins Konzentrationslager Stutthof. Jetzt, am Ende seines Lebens, steht Bruno D. in Hamburg vor Gericht, in einem der letzten NS-Prozesse. Eine Rekonstruktion seines Lebens.
In einer besseren Welt würde das auch die große Mehrheit der Nichtjuristen so sehen. Niemand käme dort auf den Gedanken, unter ein Menschheitsverbrechen irgendwann einmal einen Schlussstrich zu ziehen – womöglich sogar schon dann, wenn es noch lebende Täter und überlebende Opfer gibt.
In unserer Welt aber werden nach einer im Wortsinn todernsten, hochseriös besetzten Talkrunde Kurznachrichten aus dem Publikum eingeblendet. Wenn es dort heißt, man sollte „das Judenthema etwas zurücknehmen, denn genau das schürt Hass“, bildet das zweifellos heutige Wirklichkeit ab, und um die geht es ja. Nur: „Einfach mal stehen lassen“ darf man das nicht. Der Verweis auf die damalige Wirklichkeit in den KZ ist dann Pflicht, schon aus Respekt vor den Opfern.
https://www.weser-kurier.de/


Soll ein Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 gezogen werden?

Meinung zum Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit bis 1945
Veröffentlicht von Statista Research Department, 26.01.2012
Die Grafik zeigt das Ergebnis mehrerer Umfragen zwischen 1994 und 2012 zum Fortbestand der deutschen Schuld. Es wurde gefragt, ob ein Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 gezogen werden soll. Im Mai 1994 waren 53 Prozent der Befragten der Meinung, dass ein Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 gezogen werden sollte, im Januar 2012 waren 40 Prozent der Befragten dieser Meinung.
https://de.statista.com/




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